Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
los. Nein, nein, nein, es war unmöglich, daß er seine Musik für nichts und wieder nichts sollte aufgegeben haben. Mit jedem Tag wuchs seine Ungeduld. Seit drei Wochen schon war Friedrich Benjamin verschwunden, und nichts geschah. Nichts wußte man von seinem Schicksal. Er war über die deutsche Grenze geschleppt worden, das war alles.
Da endlich, am 29. März, drei Wochen nach Benjamins Abreise, veröffentlichte die Schweizer Regierung eine Meldung, die dem erlahmenden Kampf für Benjamin neuen Schwung gab.
Die Schweizer Polizeibehörden hatten Beweismaterial zusammengetragen, so erdrückend, daß der verhaftete Dittmann unter seiner Wucht zusammengebrochen war. Er hatte ein detailliertes Geständnis abgelegt, seine Helfershelfer genannt und preisgegeben. Diese Helfershelfer aber waren amtliche deutsche Stellen.
Folgendes hatte die Schweizer Polizei ermittelt: Benjamin hatte sich an jenem 10. März mit Dittmann und einem zweiten deutschen Agenten in einem Restaurant in Basel getroffen, nur wenige hundert Meter von der Grenze entfernt. Man hatte ein »Taxi« beschafft, und die drei stiegen ein, um gemeinsam gewisse Papiere zu holen, die Benjamin brauchte. Das vorgebliche Taxi hatte unmittelbar vor der Grenze plötzlich Vollgas gegeben, so daß der Schweizer Zollwächter zur Seite springen mußte, und war im Siebzigkilometertempo über beide Grenzen, die Schweizer und die deutsche, gerast. Es war aber an allen andern deutschen Grenzübergängen derSchlagbaum niedergelassen, denn das Dritte Reich sperrte sich ab gegen die Außenwelt, es wollte das Geld nicht hinaus- und den Geist nicht hereinlassen. Auch dieser Schlagbaum an der Basler Grenze war seit dem November immer niedergelassen gewesen. In jener Nacht vom 10. März aber, und diese Tatsache belastete die deutschen Behörden am meisten, war der Schlagbaum offengestanden. Es war also schlüssig erwiesen, daß Friedrich Benjamin im Auftrag deutscher Behörden vom fremden Territorium weg mit List und Gewalt über die Grenze verschleppt worden war.
Trautwein hatte sich’s nicht eingestanden, aber das Gewarte hatte bös an ihm gefressen. Jetzt, als er die Mitteilung der amtlichen Schweizer Telegrafenagentur las, jubelte er, er schnalzte mit der Zunge, seine tiefliegenden, grünbraunen Augen strahlten aus dem knochigen Gesicht. Er hatte es immer gewußt, man wird diese Gewalttat nicht schweigend hinnehmen.
Es drängte den sanguinischen Mann, seine Genugtuung mit andern zu teilen. Gerade mit dem Zweifler mußte er sie teilen, den mußte er beschenken, dem mußte er eine Freude bereiten: er beschloß, Tscherniggs Verse zu veröffentlichen.
Sogleich machte er sich ans Werk. Ging zu Chefredakteur Heilbrun. Der empfing ihn unausgeschlafen und großartig wie stets. »Wenn Sie Zeit haben«, bat Trautwein, »möchte ich Ihnen ein paar Gedichte vorlesen.« – »Muß es sein?« fragte der müde Heilbrun. »Es sind herrliche Verse«, begeisterte sich Trautwein. »Von wem?« fragte mißtrauisch Heilbrun. »Das möchte ich Ihnen später sagen«, antwortete Trautwein und zog das Manuskript heraus. »In Gottes Namen, und weil Sie es sind«, konzedierte Heilbrun, legte sich auf die Couch, die seinem Büro das unamtliche Aussehen gab, und schloß die Augen, die Hände hinterm Schädel verschränkt. Sein großer, viereckiger Kopf mit dem weißen, kurzgeschnittenen, borstigen Haar sah müde aus.
Trautwein begann, jene Verse vorzulesen, die Tschernigg ihm damals im Café Zur guten Hoffnung rezitiert hatte. Sieklingen, nun er sie liest, anders als im Tonfall Tscherniggs, sie haben sich verwandelt, doch auch so klingen sie stark; ihm will scheinen, als seien sie noch stärker, wenn sie losgelöst sind von der zweideutigen Umgebung der Kneipe und von der nicht schlackenfreien Persönlichkeit Tscherniggs. Er liest die Verse hingegeben, gut, sehr münchnerisch. Niemand hört die eigene Stimme richtig, denkt er, während er liest. Die Resonanz im Kopf ändert die Stimme. Wenn man die eigene Stimme auf einer Grammophonplatte hört, erkennt man sie nicht wieder. Aber wie schön sind diese Gedichte, mit welcher Stimme immer man sie liest.
Chefredakteur Heilbrun liegt auf der Couch, die Augen geschlossen, und hört zu. Er hat ein gutes Ohr und erkennt rasch den Dichter. Er kann Tschernigg nicht leiden, der verwahrloste, exaltierte Mensch mit seinem verrückten Nihilismus ist ihm wie den meisten zuwider, es hat in Deutschland mehrmals Stunk mit ihm gegeben. Dazu ist der Raum der »P. N.«
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