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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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verdammte Bengel.
    Sonderbar, daß jeder neue Besuch Raouls ihn aufregt. Er kennt doch Raoul längst bis in die letzte Nuance. Alles, was über sein Verhältnis zu Raoul zu sagen ist, steht säuberlich aufgeschrieben in der Historia Arcana. Er holt das Buch heraus, liest nach.
    Dann macht er einen neuen Eintrag, beschreibt seinen heutigen Tag. Bemüht sich, die Gedanken so abzufangen, wie sie ihm kommen. »Was habt ihr da wieder angestellt«, notiert er und: »Der Artikel eines gewissen Trautwein.«
    Und plötzlich schreibt er hin, er weiß selber nicht, wieso: »Man muß den gewissen Trautwein totmachen.« – »Totmachen«, wie merkwürdig, daß ihm dieses Wort aus dem Kinderslang in die Feder gekommen ist, er gebraucht es sonst nie. Aber da steht es.
    Er überliest, was er geschrieben hat. »Totmachen.« Er schüttelt den Kopf. Und, mechanisch fast, überträgt er seinen letzten Satz in eine andere Form, in eine weniger kindliche, bösartigere, dunklere, mehr pathetische. Er schreibt hin ein Zitat aus dem Neuen Testament, aus dem Kapitel, da die Erzpriester hören, wie die Apostel Zeugnis ablegen. »Ihnen aber«, schreibt er, »da sie das höreten, ging es durchs Herz, und sie gedachten, sie zu töten.«
8
Trübe Gäste
    Während des Krieges und in den beiden Jahrzehnten hernach hatten in manchen Ländern Revolutionen stattgefunden. Diese Umwälzungen hatten zahlreiche Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat getrieben. Es gab also Emigranten vieler Nationen.
    Die deutsche Emigration war zerklüfteter als jede andere. Es gab unter den deutschen Exilanten zahlreiche, die um ihrer politischen Gesinnung willen hatten fliehen müssen, und es gab die große Masse derjenigen, die, nur weil sie selber oder ihre Eltern in den standesamtlichen Registern als Juden geführt wurden, sich zur Auswanderung gezwungen gesehen hatten. Es gab viele, Juden und Nichtjuden, die freiwillig gegangen waren, weil sie die Luft des Dritten Reichs einfach nicht mehr hatten atmen können, und andere, die für ihr Leben gern in Deutschland geblieben wären, hätte man sie dort nur auf irgendeine Art ihren Lebensunterhalt verdienen lassen. Aber eben das war einer der wesentlichen Punkte des nationalsozialistischen Programms und eigentlich der einzige, der sich verwirklichen ließ: den politischen Gegnern, den persönlichen Feinden oder Konkurrenten der neuen Herren und den als Juden Eingetragenen die Lebensmöglichkeit zu nehmen, auf daß sie krepierten wie die Fische eines austrocknenden Gewässers. Viele der deutschen Emigranten waren eingekerkert gewesen, mißhandelt, gedemütigt, schikaniert, viele hatte Freunde und Verwandte, die in Deutschland umgekommen waren, viele arbeiteten außerhalb der Reichsgrenzen am Sturz des verhaßten Regimes. Aber es gab auch solche, die mit der neuen Herrschaft einverstanden waren, die nie gefühlt, ja kaum gewußt hatten, daß sie Juden waren, und die, nachdem sie sich plötzlich infolge irgendeiner standesamtlichen Eintragung als Juden und somit als minderwertig abgestempelt sahen, nur sehr gegen ihren Willen aus ihrervielhundertjährigen Heimat vertrieben worden waren. Es gab also unter diesen Exilanten Menschen jeder Art, solche, die ihre Gesinnung, und solche, die einfach ihre Geburtsurkunde oder irgendein anderer Zufall aus Deutschland getrieben hatte; es gab freiwillige und es gab Muß-Emigranten.
    Auch gab es unter den hundertfünfzigtausend aus Deutschland Verjagten nicht nur Menschen jeder politischen Gesinnung, sondern auch jeder sozialen Stellung und jedes Charakters. Jetzt, ob sie wollten oder nicht, bekamen sie alle die gleiche Etikette aufgeklebt, wurden sie alle im gleichen Topf gekocht. Sie waren in erster Linie Emigranten und erst in zweiter, was sie wirklich waren. Viele sträubten sich gegen eine so äußerliche Einordnung, doch es half ihnen nichts. Die Gruppe war nun einmal da, sie gehörten dazu, die Verknüpfung erwies sich als unlösbar.
    Für die meisten bedeutete die freiwillige oder erzwungene Flucht aus Deutschland Preisgabe ihrer Stellung und ihres Vermögens. Denn die Stellung mußte aufgegeben, das Geld zurückgelassen werden. Womit sonst hätte die regierende Partei die Versprechungen halten können, die sie ihren Mitgliedern gemacht hatte, bevor sie ans Ruder kam? So lebten also die deutschen Emigranten zumeist in Dürftigkeit. Es gab Ärzte und Rechtsanwälte, die mit Krawatten hausierten, Büroarbeit verrichteten oder sonstwie, illegal, von der Polizei gehetzt, ihr Wissen an

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