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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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kennengelernt hat, im Briefwechsel und in Gesprächen mit Mitarbeitern, Lesern, Hilfesuchenden, was ihm aus Harry Meisels »Sonett 66« scheußlich entgegenstarrte, das ist jetzt leibhaftig da, das wäre sein eigenes Schicksal, stünde sie nicht dazwischen. Sie allein hat ihm diese ganzen Scheußlichkeiten ferngehalten, sie hat verzichtet auf die Arbeit mit ihm, um ihn vor dem ganzen Dreck zu schützen. Er aber hat es nicht gesehen, hat es nicht sehen wollen. Und jetzt kommt er nach Haus nach einer durchbummelten Nacht und weckt sie und schimpft und flucht, weil ihm die Milch nicht gut genug ist.
    Sie liegt immer noch, den Kopf in den Kissen. Wo ist ihr schönes, schwarzbraunes Haar? Es ist grau, zottelig. Aber der Rücken, der von Stöhnen geschüttelte, ist noch der Rücken,den er vor zwanzig Jahren geliebt hat. Sacht streichelt er mit der Hand über diesen Rücken, er dämpft die Stimme, tröstet: »Nicht, Anna, nicht.« Noch eine Weile sucht er sie so zu beschwichtigen; dann, behutsam, legt er sich zu ihr ins Bett und nimmt ihren Kopf an seine Brust.
    Sie sprechen kein Wort, er hat ein tiefes Schuldgefühl. Er ist froh, daß sie ruhiger wird, daß der Ausbruch vorbei ist. Sie löst sich von ihm. Er, plötzlich, spürt die ganze Müdigkeit dieses schweren Tages und der langen Nacht. Ja, hundemüde ist er, das einzige, was er noch spürt, ist eine endlose, schmerzhafte Müdigkeit, die ihn ganz ausfüllt. Er will noch etwas zu ihr sagen, aber er kann es nicht. Gegen seinen Willen schläft er ein, fest, tief.
13
Der Tod von Basel
    »Merkwürdig, lieber Wiesener«, meinte Spitzi, und ein strahlendes Lächeln entblößte seine schönen, neuen Zähne, »daß Sie sich wegen einer so geringfügigen Sache in Person herbemüht haben.« Er schaute Wiesener frech und liebenswürdig ins Gesicht; so jugendlich der ganze Mann wirkte, seine hellen Augen konnten unerwartet alt, wissend und ironisch blicken.
    Man war in Herrn von Gehrkes Amtszimmer in der Rue de Lille. Spitzi hatte recht, und Wiesener selbst wunderte sich, daß eine so unbedeutende Angelegenheit wie der Fall Benjamin ihn veranlaßt hatte, auf die Botschaft zu gehen. Beinahe schon bereute er’s. Aber der Impuls, der ihn hergetrieben hatte, war zu stark gewesen.
    Auch ihm war, als er das hilflos freche Gestammel gelesen hatte, mit dem Berlin die Schweizer Note erwiderte, beklemmend die Vorstellung aufgestiegen, die Sache könnte schon endgültig entschieden und das Streitobjekt tot sein. Wiesener war nicht sentimental, hätte schwer erklären können, warum nach so vielen andern dummen, brutalen Geschehnissengerade diese Möglichkeit ihn so tief erregte: aber es war nun einmal so. Wenn er daran dachte, daß man diesen Fritz Benjamin könnte erschlagen haben, überkam ihn ein fast körperliches Unbehagen, als hätte er eine schlechte Auster geschluckt.
    Spitzi indes schien die Sache nicht tief zu gehen. Vorläufig jedenfalls fuhr er fort, Wiesener auf seine liebenswürdige, etwas hintergründige Art aufzuziehen. »Sehen Sie, mon vieux«, meinte er philosophisch, »vor zwei Monaten haben Sie sich gewundert, daß ich mich wegen des gewissen Benjamin und des gewissen Trautwein in Bewegung gesetzt habe. Und jetzt sitzen Sie selber hier. Haben Sie übrigens das Material über die ›P. N.‹ erhalten?« erkundigte er sich weiter.
    Wiesener dankte. Er hatte es erhalten. In dieser Angelegenheit hat sich Spitzi tadellos benommen. Er hat ihm damals unaufgefordert einen dicken Akt über die »P. N.« zugestellt, das ganze Dossier, eingehende, wertvolle Mitteilungen, vor allem über den Verleger Louis Gingold. Man kann mit Hilfe dieses Materials eine aussichtsreiche Aktion gegen die »P. N.« starten. Warum tut das Spitzi nicht selber? Es könnte ihm doch, gerade nachdem die Geschichte mit Benjamin nicht ganz nach Wunsch ging, nichts schaden, sich in Berlin lieb Kind zu machen. Warum hat er statt dessen ihm das Material geschickt? Aus Großzügigkeit? Kommt er selber sich zu gut vor für so was? Oder ist es einfach Wurstigkeit?
    Allein Wiesener ist nicht hergekommen, um Spitzis Seelenleben auszukunden, sondern um jene bestimmte Idee loszuwerden. Die Vorstellung, der Fall Benjamin könnte eine Komödie sein und der ganze Tanz um einen Leichnam gehen, quält ihn. Sicher werden Lea oder Raoul ihn bald wieder einmal nach Friedrich Benjamin fragen: was soll er erwidern? Wenn er sich das vorstellt, zieht er sich ein wenig zusammen wie seinerzeit im Schützengraben, wenn ihn die

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