Existenz
lang und dunkel, dass Blumen ihre Blüten zu schließen begannen und Vögel ihre Schlafplätze aufsuchten, weil sie glaubten, die Nacht sei gekommen. Da er keinen eigenen Antrieb brauchte, schwebte der riesige Zeppelin fast lautlos über die Landschaft hinweg. Nicht so schnell wie ein Flugzeug, aber malerischer – frei von Kohlenstoffabgaben oder Ozonsteuer – und viel billiger. Tor justierte die Brille auf Vergrößerung, und ihr Blick folgte dem Verlauf des Zugkabels am östlichen Expressgleis entlang. Zwölftausend Pferde zogen das Luftschiff, in Gestalt einer Magnetschwebe-Lok namens Umberto Nobile .
Warum erregten die Luftschiffe so große Aufmerksamkeit? Oh, sicher, die meisten von ihnen hatten inzwischen pixelierte Außenplanen, die für jede beliebige Darstellung programmiert werden konnten. In der Nähe eines Bevölkerungszentrums – oder selbst eines Dorfes mitten im Nichts – flackerten und leuchteten bunte Bilder über die Rümpfe der Frachtzeppeline und machten Werbung für alles, von lokalen Geschenkeläden über Versand hauswaren bis hin zu irgendwelchen brasilianischen Bloat-Unternehmen. Als es noch nicht genug Kunden für die fliegenden Werbeflächen gegeben hatte, waren manchmal Zeppeline unterwegs gewesen, deren Rümpfe wie Wolken aussahen, oder wie über den Himmel laufende Schweine. Immerhin waren Launen und Marotten eine weitere moderne Währung. Auf den VR-Levels wimmelte es davon.
Aber mit Zeppelinen konnte man schrullige Bilder an den echten Himmel malen.
Tor schüttelte den Kopf.
Aber nein. Das war nicht der Grund. Selbst nackt und grau konnte man die Zeppeline nicht einfach ignorieren. Leise und gewaltig verkörperten sie eine Art von Eleganz, die Menschen schaffen konnten, die jedoch in ihrem hektischen Leben fehlte.
Tor knabberte an einem mit aktiven Elementen ausgestatteten Fingernagel, dachte an Wesley, der am Skydock auf ihre Ankunft wartete, und versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, als plötzlich eine Stimme über ihr erklang.
»Haben Sie noch einen Wunsch, bevor wir den Federal District erreichen, Madam?«
Sie sah zu dem Bediensteten auf, der nicht mehr war als ein kastenförmiger Zustellbehälter. Er bewegte sich an einer Wandschiene und ließ den Gang für Passagiere frei.
»Nein, danke«, murmelte Tor automatisch, eine höfliche Angewohnheit ihrer Generation. Jüngere Leute hatten bereits gelernt, maschinelle Sklaven verächtlich zu behandeln, selbst dann, wenn sie kurze Anweisungen an sie richteten. Tor fand diese Tendenz seltsam, denn immerhin wurden die KIs ständig intelligenter.
»Kannst du mir sagen, wann wir eintreffen?«
»Gewiss, Madam. Die besonderen Sicherheitsmaßnahmen haben eine Verzögerung zur Folge, und deshalb dauert es noch ein bisschen, bis wir den Beltway überqueren. Aber es besteht kein Grund zur Sorge. Wir bleiben dem Zeitplan voraus, wegen des Rückenwinds über den Appalachen.«
»Hm. Besondere Sicherheitsmaßnahmen?«
»Für die Artefakt-Konferenz, Madam.«
Tor runzelte die Stirn. Sie hoffte, dass Wesley keine Probleme haben würde, sie abzuholen. Es gab schon genug Spannungen zwischen ihnen, auch ohne dieses zusätzliche Ärgernis. Er regte sich immer mächtig auf, wenn er von Angehörigen der Bürohengst-Gilde überprüft und gefilzt wurde, von misstrauischen Beamten, die überall nach Bomben und Attentätern suchten.
»Für die Artefakt-Konferenz?« Tors Gedanken konzentrierten sich auf einen bestimmten Punkt. »Aber das hätte berücksichtigt werden müssen. Entsprechende Sicherheitsmaßnahmen waren vorhersehbar und sollten keinen Einfluss auf unseren Zeitplan haben.«
»Es besteht kein Grund zur Sorge«, wiederholte der Bedienstete. »Wir haben gerade eine entsprechende Nachricht erhalten, vor zwei Minuten. Wir sind angewiesen, die Geschwindigkeit zu drosseln, das ist alles.«
Tor sah nach draußen und erkannte die Auswirkungen der Geschwindigkeitsreduzierung: Der Zeppelin sank tiefer, und das Zugkabel hing etwas mehr durch.
In der Ecke ihrer Tru-vu-Brille erschien der Hinweis: Höhe: 359 Meter.
»Möchten Sie den Platz wechseln, während wir uns der Hauptstadt nähern?«, fragte der Bedienstete. »Es wird eine Ansage erfolgen, wenn die Mall in Sicht kommt, aber vielleicht möchten Sie schon vorher einen Platz einnehmen, der eine gute Aussicht bietet. Kinder und erstmalige Besucher haben natürlich Vorrang.«
»Natürlich.«
Erste Touristen machten sich bereits auf den Weg zum weiter vorn gelegenen Aussichtssalon. In
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