Existenz
bunte Sarongs und lange Hosen gekleidete Eltern trieben Kinder vor sich her, die nach der neuesten Mode gekleidet waren: falsche Fühler und Schuppen, in Nachahmung der Außerirdischen im Livingstone-Objekt, das aus irgendeinem Grund auch »Havanna-Objekt« genannt wurde. Eine große Konferenz sollte darüber befinden, ob es sich um einen echten Ersten Kontakt handelte, aber die Popkultur hatte ihre Entscheidung bereits getroffen.
Sie hielt das Artefakt für cool.
»Vor zwei Minuten erfolgte ein Alarm?«, wunderte sich Tor. Ihre Brille hatte nichts angezeigt. Aber vielleicht waren die Wachsamkeitsschwellen zu hoch angesetzt. Sie klickte mit ihren Zahnimplantaten und senkte sie.
Sofort zeigte sich warnendes Scharlachrot an den Rändern ihres Blickfelds, darin blinkende Links, die mit einem Blinzeln aktiviert werden konnten.
Oh, oh.
»Kein Alarm , Madam. Nein, nein. Nur ein vorsichtiger Hinweis …«
Aber Tors Aufmerksamkeit weilte bereits woanders. Mit einigen Klicks und subvokalen Anweisungen veranlasste sie ihre Brille, die Datenoverlays der virtuellen Welten zu durchsuchen und dabei den Threads von bedrohter Sicherheit zu folgen. Sensoren überwachten alle Bewegungen ihrer Augen und reagierten bereits auf ihre Wahl, noch bevor sie sie bewusst getroffen hatte, während weitere Hinweise von den Seiten kamen und blinkten.
»Kann ich vielleicht Abfälle fürs Recycling mitnehmen?«, fragte der kastenförmige Behälter an der Wand und öffnete etwas, das nach einem hungrigen Maul aussah. Der Bedienstete wartete einige Sekunden und merkte dann, dass Tor gar nicht auf ihn achtete, woraufhin er die Klappe wieder schloss und davonglitt.
»Kein Grund zur Sorge«, murmelte Tor sarkastisch, als sie die Suche in den Datensphären fortsetzte. Jemand hätte diese Worte aus dem Repertoire aller Apparate streichen sollen. Jeder, der älter als dreißig war, zuckte zusammen, wenn er sie hörte. Von allen Lügen, die den Furchtbartag begleitet hatten, war dies die schlimmste.
Einige von Tors besten Software-Agenten erstatteten bereits Bericht.
Koppel , der alles zusammenfasste, hatte die Info-Feeds der Medien, Korporationen und der Regierung untersucht und offizielle Verlautbarungen miteinander verglichen. Die meisten von ihnen wiederholten das beunruhigende Kein Grund zur Sorge .
Gallup , Tors demoskopisches Programm, suchte nach Meinungen. Offenbar fielen die Leute nicht darauf herein. In einem Maßstab von eintausend hatte Kein Grund zur Sorge eine Glaubwürdigkeit von achtzehn, und sie sank weiter. Tor spürte, wie sich in ihrer Magengrube etwas zusammenzog.
Bernstein sprang in die Whistleblower-Kreise, ging Gerüchten und Klatsch nach. Wie üblich gab es viel zu viele Gerüchte, als dass eine Person – oder eine KI – ihnen allen folgen konnte. Aber diesmal überwältigte die Flut sogar die Filter der Skeptischen Gesellschaft. MediaCorp schien es nicht besser zu ergehen; Tors Status als Mitglied der Journalistischen Belegschaft brachte ihr nur eine Wartenummer von der Abteilung Recherche ein, und das Versprechen, in »einigen Minuten« zu antworten.
Minuten?
Es sah allmählich nach einer absichtlichen Desinformationsflut aus, die echten Tratsch und Klatsch überschwemmen sollte. Gangster, Terroristen und Reffer hatten auf die harte Tour gelernt, dass sorgfältige Pläne von einem weichherzigen Schurken ruiniert werden konnten, dem Bedenken wegen unbeteiligter Zuschauer kamen. So manches dicke Ding war aufgeflogen, weil irgendein unwichtiger Kuli im letzten Moment einen anonymen Hinweis gepostet hatte. Um das zu verhindern, setzten Drahtzieher und Rädelsführer regelmäßig ganze Kaskaden von falschen Geständnissen frei, wenn eine Operation begann, ein Spamming aus künstlich erzeugter falscher Reue, die das ganze Spektrum abdeckte, von plausibler Sabotage bis hin zu hausgemachten Katastrophen.
Tor starrte auf die vielen Warnungen und begriff, dass mindestens eines der Gerüchte wahr sein musste. Aber welches?
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In North und South
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