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Existenz

Existenz

Titel: Existenz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brin
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dabei, die einzelnen Segmente ihres neu verschalteten Gehirns zu identifizieren –, bekam sie jeden Tag einen Überblick über die neuesten Entwicklungen. Dazu gehörte natürlich auch die planetenweite Faszination, die dem Stein aus dem All galt, dem Livingstone-Objekt. Aber es gab auch Berichte über die Suche nach den Zeppelin-Attentätern, nach jenen Leuten, die den armen Warren umgebracht hatten und denen Tor ihren gegenwärtigen Zustand verdankte.
    Ihre direkten Erinnerungen an den Zwischenfall waren vage und verschwommen – ein Trauma verhinderte oft die Verankerung von Erinnerungen an ein katastrophales Ereignis. Tor erinnerte sich in einzelnen Bildern an Warren, zusammen mit Szenen aus einer Kathedrale, gefüllt mit hohen, bunten Säulen, die sich bedrohlich aufblähten und pulsierten. Ein Teil davon war zweifellos eine visuelle Rekonstruktion, basierend auf Dingen, die man ihr erzählt hatte, über ihr tapferes Eingreifen.
    Das erste klare Bild, das sich in ihrem visuellen Kortex formte – das erste, das ihr mehr zeigte als nur einige geometrische Formen –, wogte und waberte und wurde dann zu einer zitternden Titelseite des The Guardian , der wichtigsten Virzeitung von MediaCorp. Es präsentierte ein körniges, unscharfes, animiertes Bild, das offenbar einen beschädigten Zeppelin darstellen sollte, mit Flammen, die aus einem großen brennenden Bereich auf dessen Rücken loderten. Ein ramponiertes Luftschiff, aber noch immer voller Stolz und nicht bereit, den Himmel zu verlassen. Unten erkannte Tor einige Flecken, vermutlich Passagiere, die sich Notrutschen anvertrauten und von ihnen in Sicherheit bringen ließen.
    Na ja, das Bild ist nicht so historisch-dramatisch wie die Hindenburg- Dokumentation, aber es hat durchaus einen gewissen Biss.
    Es gab noch etwas, direkt neben der Animation. Ohne Augen, die sich bewegen ließen, fiel es Tor schwer, den Blick auf das zu richten, was sich weiter rechts befand. Nach einigen weiteren Sekunden der Konzentration wurden die betreffenden Darstellungen klarer, und plötzlich begriff sie, worum es sich handelte: um ein Bild von ihrem Gesicht.
    Oder davon, was mein Gesicht gewesen ist. Ich werde es nie wieder in einem Spiegel sehen. Und es wird auch niemand sonst Gelegenheit erhalten, es zu betrach ten. Doch das schien seltsamerweise nicht wichtig zu sein. Nicht im Vergleich mit etwas viel Einfacherem.
    Die Überschrift des Bildes gewann Konturen und war dann ganz deutlich zu erkennen:
    Hunderte von Heldin gerettet.
    Freude stieg in Tor auf, galt allerdings nicht der Botschaft, die die Worte vermittelten, sondern vor allem ihrer Existenz.
    Ich kann lesen!
    Nicht alle Patienten, die auf diese Weise ihr Sehvermögen zurückerlangten, bekamen das ganze Paket ihrer visuellen Fähigkeiten. Es war eine Sache, eine Ansammlung von Pixel-Punkten zu stimulieren, damit sie Bilder formten, und eine ganz andere, ihnen Bedeutung zu geben. Das erforderte zahlreiche wichtige Subfähigkeiten, für die Nervenzellen in verschiedenen Teilen des Gehirns zuständig waren. Etwas so enorm Komplexes wieder zusammenzubauen oder mit Mikromaschinen künstlich nachzubilden … Damit war die Wissenschaft noch überfordert. Sehen und das Gesehene zu verstehen , dafür brauchte man ein voll funktionsfähiges Gehirn.
    Deshalb fühlte Tor überwältigende Erleichterung. Sie hatte ein Gesicht erkannt und eine Ansammlung von Buchstaben zu Worten zusammengesetzt, gleich beim ersten Versuch! Sie klickte mit ihren Zähnen, um diesen wichtigen Meilenstein mit der Außenwelt zu teilen.
    Selbst wenn ich nichts anderes zurückbekomme, ich werde in der Lage sein, Bücher zu lesen. Und wahrscheinlich werde ich auch schreiben können.
    Ich bin nicht tot. Ich kann einen Beitrag leisten.
    Ich bin noch immer etwas wert.
    Und dann hieß es: Zurück an die Arbeit. Tor fand sogar ein wenig Gefallen daran, die Komplexitäten ihres eigenen Nervensystems zu ergründen und dabei zu helfen, sich selbst gründlich zu überprüfen. Von so etwas hätten ihre Vorfahren nicht einmal träumen können, von einer derart gründlichen Kontrolle aller einzelnen Teile des Mechanismus, den fast alle als gegeben hinnahmen – den kompliziertesten aller Apparate.
    Zu Tors Überraschung bedeutete es auch, noch einmal Erinnerungen zu durchleben, die plötzlich in ihr aufflammten. Eine Sonde in ihrem Hirn berührte etwas, das sie zu einem klaren Herbsttag zurückbrachte, als sie sechs Jahre alt gewesen war und sich mit einem tropfenden

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