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Existenz

Existenz

Titel: Existenz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brin
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Dann drückte er die kleinen Flecken wieder dorthin, wo er sie entdeckt hatte. »Aber schwerer ist es, sie zu stoppen und zu foppen und zu toppen.«
    Mei Ling war nicht sicher, ob sie verstand, aber der Junge ließ es so klingen, als sei Ladendiebstahl ganz einfach.
    Er bot ihr einen kurzen Blickkontakt, zusammen mit einem flüchtigen Lächeln, das mühevoll und schmerzlich wirkte, aber auch freundlich – es schien seinerseits enorme Konzentration zu erfordern, diese kurze Verbindung mit ihr herzustellen.
    »Mutter sollte Ma Yi Ming trauen.«
    »Ma«, was auch Pferd bedeuten konnte, war ein traditionelles Symbol für große Macht. Insbesondere im Schanghaier Dialekt waren Namen oft ungestüm und forsch, damit der Träger Zuversicht entwickelte und es zu etwas brachte. Damit er zu jemandem wurde, der herausragte und Großes leistete, trotz einer Behinderung. Es erschien Mei Ling als eine seltsame Ironie.
    »Na schön … Yi Ming«, sagte sie. Dieser Teil des Namens stand für »das Volk«. Eine weitere Ironie?
    »Ich vertraue dir«, fügte sie hinzu und merkte, dass es stimmte, als sie die Worte aussprach.
    Der kleine Xiao En beklagte sich mit leisem Murren darüber, dass er nicht länger an der Brustwarze saugen durfte, weil Mei Ling glaubte, dass er genug getrunken hatte. Doch er benahm sich und blieb still, als sie ihn trockenlegte. Anschließend duckte sich Mei Ling in einen nahen Alkoven und zog sich um. Unterdessen hantierte Yi Ming mit ihren schäbigen alten Sachen. Warum? Sie sollten doch bestimmt zurückbleiben.
    Davon überzeugt, dass irgendetwas schiefgehen würde, sah Mei Ling über den Vorhang, während sie mit den Verschlüssen rang. Kurze Zeit später verließ sie den Alkoven in der steifen, gestärkten Uniform und zog dabei die Aufmerksamkeit eines Angestellten auf sich. »He, ich habe Sie gar nicht gesehen …«
    In diesem Moment, während Mei Lings Herz noch heftig klopfte, krachte es auf der anderen Seite des Ladens. Ein großer, breitschultriger Mann – offenbar der Hausmeister – wich von einer Schaufensterpuppe zurück und verteidigte sich mit seinem Mopp, als die Kleider tragende Puppe quiekte, ihre animierten Plastikarme bewegte und Pullis, Akti-Hosen und eHemden nach ihm warf. Alle Angestellten eilten in die entsprechende Richtung … und der autistische Junge murmelte:
    »Mutter hat Kleidung gewechselt. Jetzt Gesicht.«
    Er zog Mei Ling zur Hintertür, in den toten Winkel zwischen Laden und Gasse, und bedeutete ihr, sich zu bücken. Dann holte er eine Art Stift hervor, ergriff mit der linken Hand ihren Nacken und hielt Mei Lings Kopf mit erstaunlicher Kraft fest, während er den Stift über Wangen und Stirn zog. Als er losließ, wich Mei Ling mit einem Seufzen zurück, das sowohl Ärger als auch verletzten Stolz zum Ausdruck brachte.
    »Wie kannst du es wagen …«, begann sie. Doch dann hielt sie inne, als sie sich im Spiegel des Umkleidebereichs sah. Der Junge hatte nur etwa ein Dutzend Linien gemalt, die absurd und albern aussahen – wenn man sie direkt ansah. Aber wer sah einen auf der Straße schon direkt an? Wenn Mei Ling auch nur ein wenig den Blick abwandte, ergab sich eine ganz andere Wirkung. Dann sah sie eine Frau, die mindestens zwanzig Jahre älter war, hohlwangig und mit tiefer Stirn, einem vorstehenden Kinn, Stupsnase und geschlossenen Augen.
    »Gesichtserkennung kann Gesicht nicht erkennen.« Der Junge nickte zufrieden und streckte Mei Ling die Hand entgegen. »Nächstes Ziel … ein sicherer Ort für Mütter.«
    Die nächste Stunde verbrachten sie damit, Gebäude zu betreten und wieder zu verlassen, über die Brücken höher gelegener Stockwerke zu eilen und durch Lagerräume, Werkstätten und Universitätszimmer zu hasten, bis sie schließlich einen Ort erreichten, von dem Mei Ling immer geträumt hatte, ihn eines Tages zu besuchen und seine Wunder mit eigenen Augen zu betrachten.
    »Es … es ist wundervoll«, hauchte sie ergriffen und rückte Xiao En in seiner Schlinge zurecht, damit er sehen konnte. Das Baby wurde still und starrte zusammen mit seiner Mutter auf das großartige Portal zu einer anderen Welt, deren Grenzen allein die Fantasie bestimmte.
    Das Schanghai-Universum von Disney und des Affenkönigs ragte auf der anderen Seite eines großen Platzes auf, sein künstlicher Berg voller Höhlen, durch die man fahren konnte, mit imposanten Burgen, Festungen, Fabelwesen und düsteren Wäldern, über denen bereits unheimlicher, angenehm parfümierter Dunst hing. Dort

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