Existenz
zogen die beiden Touristen die Hände zurück. Der Vater gab Yi Ming einen Stoß, der nur lachte, sich dreimal drehte und dann zu Mei Ling zurücklief.
»Mutter. Hand.«
Die reiche Familie eilte fort, und der Junge begann plötzlich damit, mit dem Stift auf Mei Lings Hand zu malen, den er vor einer halben Stunde auch in ihrem Gesicht benutzt hatte. Zuerst konnte sie kein Muster erkennen, nur einige Punkte , die stachen und ein wenig wehtaten, selbst auf ihrer schwieligen Haut. Die Punkte befanden sich alle in einem quadratischen Bereich mit einer Seitenlänge von drei Zentimetern.
Oh, dachte sie. Ist das möglich? Kann eine einzelne Person dazu imstande sein?
Die Männer kamen näher. Yi Ming ließ ihre Hand los und zeichnete auch auf seine eigene mehrere Punkte. Er malte sie auf den Rücken der rechten Hand, beobachtete Mei Ling, denn er war Linkshänder. Sie glaubte sich daran zu erinnern, dass es bei den Autisten besonders viele Linkshänder gab. Ähnliches galt für die schiefen Zähne des Jungen, seinen Hautausschlag und den seltsamen Gang. Doch das alles beunruhigte sie nicht mehr.
Bei den geifernden Alten im Hospiz habe ich Schlimmeres gesehen.
»Wir sollten besser …«, drängte sie und bezweifelte, dass sich mit den Punkten etwas ausrichten ließ.
»Ja, Mutter, jetzt.«
Sie drehten sich um und gingen schnell, aber auch locker und ungezwungen, wie ein Kindermädchen, das einen Jungen und ein Baby zum Portikus brachte, wo automatisch die Tickets der Besucher überprüft wurden. Tickets in Form von zeitlich beschränkten Code-Tätowierungen.
Mei Ling achtete darauf, dass ihre linke Hand zu sehen war, obwohl sie den Strahl des Scanners nicht bemerkte. Zu ihrer großen Überraschung schritten weder Disney-Wächter noch Roboter ein. Stattdessen erklang eine Stimme, wie aus dem Himmel.
»Willkommen zurück, Mrs. Chu und liebe kleine Lui. Oh, wie schnell ihr euch im Hotel umgezogen habt und hierher zurückgekehrt seid.
Euer VIP-Pass ist natürlich noch gültig. Ein Robo-Wagen wartet auf euch. Links von euch die Straße des Pandas hinunter.
Wenn Mr. Chu später kommt, so bringen wir ihn mit freundlicher Eile zu euch.«
Mei Ling und Yi Ming eilten weiter, über die Grenze hinweg, gebildet von Fliesen, die in kaiserlichem Gelb leuchteten. Sie hatten einen fast komfortablen Vorsprung – die Verfolger erreichten den Sicherheitskordon erst eine Minute später. Dort stapften die großen Männer verärgert und enttäuscht umher, denn sie wussten, dass sie ohne Pass – und noch dazu bewaffnet – nicht durch die Absperrung konnten. Wenn sie es versucht hätten, wären innerhalb kürzester Zeit mehr Wächter erschienen, als sie überwältigen konnten. Sie hätten mehrere gerichtliche Anweisungen vorlegen müssen, unterschrieben von weitaus mächtigeren Personen, und vielleicht wäre die Absperrung selbst dann undurchdringlich für sie geblieben.
Mei Ling atmete erleichtert auf und blickte voller Genugtuung zu den wütenden Männern zurück, bevor sie ihre ganze Aufmerksamkeit nach vorn richtete, auf eine Welt voller Wunder. Vor ihnen erstreckte sich eine breite Straße mit Läden und Fahrgeschäften. Die Gebäude schienen lebendig zu sein – Roboter-Figuren verbeugten sich oder tanzten verspielt, wenn man den Blick auf sie richtete. Der kleine Xiao En war sofort bezaubert, und Mei Ling ebenfalls. Yi Ming hingegen schüttelte immer wieder den Kopf und murmelte etwas über Cobblys … überall Cobblys .
Eins stand fest: Dies war viel besser als das Tragen einer Vir-Brille, die einer gewöhnlichen Stadt nur mehr oder weniger fantasievoll gestaltete Overlays gab. Und auch Spiele mit voller Immersion kamen nicht an dies heran. An diesem verzauberten Ort, wo jede Blume das Zehnfache ihrer normalen Größe hatte und selbst der Smog von Schanghai in aromatischem Dunst verschwand, schienen sich alle Nachteile des echten Lebens aufgelöst zu haben. Gleichzeitig erstreckten sich Vielfalt und Fülle der Realität um sie herum. Hier war die Welt wie neu erschaffen!
Ebenfalls mit einem VIP-Pass? Mei Ling fragte sich, was das bedeutete. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie während der Flucht durch Ost-Pudong das Mittagessen versäumt hatte. Sie hoffte, dass alles gut wurde, während sie ihrem seltsamen jungen Fremdenführer in die Welt der Wunder folgte, durch ein Tor, über dem Mickey Mao allen Besuchern sein wohlwollendes Lächeln schenkte.
Als Selbstverständlich angenommen
Was für ein WIENS.
Ich
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