Existenz
meine, habt ihr gesehen, wie schnell der Weltnetz-Konsens über Spitznamen für jeden Einzelnen der zweiundneunzig Außerirdischen im Artefakt entschied? Manche von ihnen sind eher unfein und andere respektvoll, wie Langzahn , Kali und Großer Kraki .
Dann gibt es da eine lange Liste von Fragen für unsere Gäste aus dem All, zusammengestellt von einer Weltöffentlichkeit, die bestrebt ist, zahllose individuelle Wünsche zu erfüllen.
Und wow, ist es nicht seltsam , dass fast alle Fragen auf zwei Klischees basieren? Auf dem einen oder dem anderen. Entweder Furcht oder Sehnsucht .
Der erste dieser beiden Punkte hat ein wenig an Bedeutung verloren, als wir feststellten, dass die Außerirdischen über keine physische Macht verfügen und von Willkommen sprechen. Deshalb bringen jetzt mehr Fragen als vorher ein Streben danach zum Ausdruck, von den Besuchern zu lernen, wobei allgemein von der Annahme ausgegangen wird, dass ihre Motive altruistischer Natur sind.
Ein Jahrhundert lang haben Sterngucker das als selbstverständlich angenommen. Wie kann ein Volk einen wirklich hohen Entwicklungsstand erreichen, ohne Egoismus zugunsten von absoluter Großzügigkeit aufzugeben? Aber ist dieser Glaube chauvinistisch oder humanozentrisch?
Welche Art von moralischem System könnte man von Löwen erwarten, die un abhängig vom Menschen Intelligenz entwickeln? Oder von einzelgängerischen, arg wöhnischen Tigern? Bären sind Allesfresser wie wir, doch es gibt bei ihnen die tief verwurzelte »Tradition«, dass männliche Bären Kindesmord begehen. Spätere Bären-Moralisten könnten diese vererbte Tendenz als geschmacklose Sünde kritisieren und versuchen, sie mit Predigten über Zurückhaltung zu überwinden. Oder vielleicht wird sie gerechtfertigt und sakralisiert. Vielleicht werden eines Tages großartige literarische Werke darüber verfasst, die die alten Traditionen rechtfertigen, so wie wir viele unsere emotionalen Eigenschaften romantisieren. Wer bezweifelt, dass intolerante und selbst mörderische Angewohnheiten romantisiert werden können, sollte sich mit den religiösen Riten der alten Azteken oder den Kindesopfern der Karthager befassen. Wenn wir imstande sind, brutale, nichtaltruistische Verhaltensweisen mit vernünftig klingenden Argumenten zu begründen und sogar zu verherrlichen – sollten hoch entwickelte Außerirdische dann nicht auch zu einer derartigen geistigen Akrobatik in der Lage sein? Vor allem dann, wenn sie durch einen entsprechenden evolutionären Hintergrund prädisponiert sind?
Und doch: Reiner Altruismus mag in der freien Wildbahn weitgehend durch Abwesenheit glänzen, was jedoch nicht heißt, dass er keine Bedeutung hat.
Komplexitätstheorien lehren: Neue Formen der Ordnung entstehen, wenn Systeme komplizierter werden. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die von der komplexesten Spezies auf der Erde geschaffene komplexeste Gesellschaft das seltene Phänomen namens Altruismus zu einem erstrebenswerten Ideal erhoben hat.
Und wow, ist es nicht seltsam , dass wir uns auf der Grundlage dieser neuen, höheren Maßstäbe so streng beurteilen?
Und WIENS, dass wir ein höheres Maß an Altruismus auf jene projizieren, die wir dort draußen zu finden hoffen? Auf Wesen, die höher entwickelt sind als wir?
Die unendliche Kette 47
Gerald war auf eine fast grimmig-entschlossene Art bereit, die Befragung der Außerirdischen im Artefakt fortzusetzen, aber Akana ordnete eine Pause fürs Mittagessen an, denn es war schon recht spät – draußen erweckte eine sich noch immer drehende Erde weiterhin den Eindruck, als wanderten Sonne und Sterne über den Himmel. Gerald musste zugeben, dass es keine so schlechte Idee war, allen Gelegenheit zu geben, zu essen, zu trinken und anderen körperlichen Bedürfnissen nachzugehen.
Doch von überall auf der Welt hagelte es Proteste wegen der Verzögerung. Millionen wollten jetzt sofort mehr über die »Unsterblichkeit« wissen, und die Sponsoren wollten weitere Werbespots bringen können. Immerhin bestand die Gefahr, dass die technischen Wunder der Außerirdischen alle Produkte schon am nächsten Tag obsolet machten – besser man verkaufte jetzt so viel wie möglich.
Als Professor Flannery in der Sandwich-Schlange zu ihm trat und sich entschuldigen wollte, winkte Gerald ab.
»Schon gut, Ben. Wir alle haben Ihren Frust geteilt. Eigentlich ist es ganz gut gelaufen. Die ausführliche Beschreibung der Reise half dabei, die Leute davon abzuhalten, sich zu sehr auf die
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