Existenz
eine neue Begegnung mit der Nemesis des Senators. Mit dem Mann, der sich als außerordentlich scharfsinnig erwiesen hatte.
Was hat Betsby jetzt angestellt? Hamish lächelte voller Vorfreude, als erwartete er den nächsten Zug eines würdigen Schachgegners.
Er ließ den kleinen Behälter mit der KIntaktlinse in seiner Jackentasche los, holte eine Tru-vu-Brille hervor und setzte sie auf.
»Zeig es mir«, wies er Wriggles an.
Zwar rechnete er mit dem Unerwarteten, doch was ihm die Brille präsentierte, kam für Hamish einem großen Schock gleich.
Posthume Beichte eines Vergifters
Wenn Sie dies sehen, bin ich entweder tot oder werde vermisst oder bin geistig so verändert, dass ich nicht mehr den komplizierten täglichen Stopp-Code für dies senden kann, für meine letzte Botschaft an die Welt.
Ich heiße Roger Betsby. Ich bin – oder war – Arzt bei einer der Flüchtlingsgemeinschaften des Detroiter Erneuerungsdistrikts. Wenn Sie hier blinzeln, zeigt Ihnen mein Homunkulus, wer ich gewesen und wofür ich eingetreten bin. Aber ich wette, Sie sind mehr an meiner Totenbett-Anklage interessiert.
Zuerst eine Beichte. Am zwölften Oktober des vergangenen Jahres habe ich bei einem Essen des First Americans Club, als Kellner verkleidet, eine Substanz in das Getränk von Senator Crandall Strong gegeben. Unter diesen Links finden Sie eine Video-Aufzeichnung, die mich dabei zeigt. Dort gibt es auch Aufnahmen – von vielen Nachrichtenzentren verbreitet – der Rede des Senators, wie er langsam begann, mit tiefer, sanfter Stimme, und sich dann immer mehr in zornige Hysterie hineinsteigerte.
Mit wachsender Leidenschaft verurteilte Strong den gegenwärtigen amerikanischen Kongress, weil er nicht genug Mittel für das Zweite Reparationsgesetz bewilligte. Er kritisierte die derzeitige Regierung dafür, mehr Umweltbefugnisse an die UNEPA delegiert zu haben. Die Kanadier machte er herunter, weil sie die Neuland-Immigration begrenzten, und die Gerichte, weil sie den Schadenersatz einschränkten, den die »Opfer der Schmelze« bei ihrem Prozess gegen die Leugner-Verschwörung gewannen.
Schon bald wandte er sich von sozialen, juristischen und politischen Gegnern ab und widmete seine rhetorische Aufmerksamkeit jenen Leuten, die er als die wahren Schurken bezeichnete, all den »Möchtegern-Gottmachern«, die sich mit Technik und Wissenschaft die Befugnisse des Allmächtigen anmaßen.
Millionen haben diese besondere Rede gesehen und miterlebt, dass Strong zu Ende hin wie üblich immer mehr in Fahrt kam. Aber diesmal endete seine Ansprache in einem hasserfüllten Gezeter, in einer völlig außer Kontrolle geratenen Tirade.
Der Übergang von rhetorischem Schwung hin zu zorniger Hysterie findet etwa acht Minuten nach Beginn der Rede statt. Strong wirkt verwirrt, leckt sich die Lippen und presst sie dann zusammen. An dieser Stelle gestikuliert er heftiger als sonst und schlägt aufs Rednerpult. Achten Sie darauf, wie seine Stimme immer lauter wird, wie das Gesicht rot anläuft und seine Vorwürfe immer heftiger werden. Doch darunter liegen Verwunderung, Sorge und noch etwas anderes, ein zunehmendes heftiges Verlangen .
Normalerweise beginnen seine Ansprachen mit politischen Klagen, die sich auf aktuelle Entwicklungen beziehen, gehen dann zur Verurteilung von Modernität und technischem »Fortschritt« über und enden mit dem Aufruf, all diese Dinge in bessere, klügere Hände zu legen. Aber diesmal geht beim Übergang vom ruhigen, vernünftigen Tonfall zu vehementer Empörung etwas schief.
Sehen Sie? Er weiß ganz offensichtlich, dass etwas nicht stimmt. Aber seine Reaktion besteht nicht darin, früher Schluss zu machen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Er macht weiter, erhöht gewissermaßen den Einsatz, setzt alles auf eine Karte. Er spricht mit noch mehr Nachdruck, wird cholerisch und apoplektisch!
Nun, inzwischen haben Sie vielleicht erraten, dass ich von Politikern nicht viel halte. Meiner Meinung nach sind sie rücksichtslose Demagogen der übelsten Sorte. Zufälligerweise ist mir auch Strongs Ansicht in Hinsicht auf viele Dinge zuwider. Aber als ich ihm die bewusstseinsverändernde Substanz ins Getränk gab, wollte ich nicht die Abkehrbewegung unterminieren. Ich glaube, dass sie falsch liegt, aber sie hat wie wir alle das Recht auf freie Meinungsäußerung. Wer weiß? Vielleicht hat sie in Bezug auf das Schicksal der Menschheit sogar teilweise recht.
Nein, an jenem Tag habe ich ein medizinisches Experiment durchgeführt.
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