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Exit to Eden

Exit to Eden

Titel: Exit to Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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erzählst«, sagte sie ziemlich unvermittelt, »wie du in El Salvador beinahe getötet worden wärst. Und was du damit meinst, wenn du sagst, es habe dich zum Nachdenken veranlaßt.«
    Sie hatte den gleichen konzentrierten und beinahe unschuldigen Gesichtsausdruck wie in der vergangenen Nacht, als wir uns unterhalten hatten. Beide waren wir mit unseren Drinks sehr zurückhaltend. Sie entsprach eigentlich nicht meiner Vorstellung von einer Frau, wenn sie so redete. Aber das hieß nur, daß ich eine ziemlich miese Meinung von Frauen hatte. Sie erschien mir geschlechtslos, interessant, aber ohne bewußte Verführungsabsichten. Sie konnte irgendwer sein. Und das empfand ich als äußerst verführerisch.
    »Ich war mit einem anderen Reporter zusammen, und wir waren nach der Sperrstunde noch draußen. Wir wurden festgenommen.«
    Ich spürte wieder dieses häßliche, bodenlose Gefühl, das mich sechs Wochen lang nicht losgelassen hatte, nachdem ich aus El Salvador rausgekommen war, dieses Gefühl von absoluter Sinnlosigkeit, von Verzweiflung, die einen jederzeit im Leben überkommen kann, die man aber in den meisten Fällen nicht aufkommen läßt.
    »Ich weiß nicht, wo wir zu sein glaubten; irgendwo in einem Café der Telegraph Avenue in Berkeley oder so. Unter ein paar weißen Liberalen der gehobenen Mittelschicht, die mit anderen Liberalen der gehobenen Mittelschicht über Marxismus und Politik und ähnlichen Blödsinn redeten. Ich meine, wir glaubten uns einfach in Sicherheit, niemand würde uns in einem fremden Land irgendwas tun, es war ja nicht unser Krieg. Nun, auf dem Weg zurück ins Hotel wurden wir im Dunkeln von zwei Kerlen angehalten. Ich weiß nicht einmal, was sie waren, Nationalgarde, Todeskommando, was auch immer; der Salvadorianer, mit dem wir den ganzen Abend verbracht hatten, hatte jedenfalls höllische Angst. Nachdem wir unsere Papiere und alles gezeigt hatten, war klar, daß man uns nicht einfach gehen lassen würde. Ein junger Bursche mit einer M-16-Knarre machte nur einen Schritt zurück und schaute uns drei an. Es war verdammt eindeutig, daß er überlegte, ob er uns abknallen sollte.«
    Ich hatte nicht den geringsten Wunsch, die Anspannung dieses Augenblicks wiederzuerleben, den Gestank echter Gefahr, die totale Hilflosigkeit, nicht zu wissen, was zu tun war - bewegen, sprechen, stillhalten -, wenn schon die geringste Änderung des Gesichtsausdrucks tödlich sein konnte. Und dann die Wut, die abgrundtiefe Wut, die auf diese Hilflosigkeit folgte.
    »Wie auch immer«, sagte ich. Ich nahm eine Zigarette und klopfte damit auf mein Knie. »Er und der andere Typ fingen an zu streiten, aber währenddessen hielt der Junge weiterhin seine Knarre direkt auf uns gerichtet. In diesem Augenblick geschah etwas. Ein Lastwagen tauchte auf, und sie sollten mitfahren. Sie schauten uns an, und wir rührten uns nicht. Erstarrt. Wie angewurzelt.«
    Ich zündete die Zigarette an.
    »Es dauerte zwei Sekunden, und wir wußten, was sie dachten; sie mußten uns abknallen. Bis heute kann ich nicht sagen, warum sie es nicht taten. Aber sie nahmen den Salvadorianer mit. Sie zerrten ihn in den Lastwagen, und wir standen da und rührten uns nicht. Dabei hatten wir den ganzen Abend im Haus seiner Mutter verbracht und über Politik diskutiert, aber wir rührten uns nicht.«
    Sie atmete zischend Luft ein.
    »Mein Gott«, flüsterte sie. »Haben sie ihn umgebracht?«
    »Ja. Aber wir erfuhren es erst, als wir wieder in Kalifornien waren.«
    Sie murmelte etwas, ein Gebet, einen Fluch, irgend so was.
    »Genau«, sagte ich. »Und, verstehst du, wir haben nicht einmal mit ihnen gestritten. Das ist der Grund, warum ich darüber absolut nicht sprechen mag.«
    »Aber du glaubst doch nicht, ihr hättet mit ihnen diskutieren können ...«, meinte sie.
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Wenn ich ein M-16 gehabt hätte, wäre es was anderes gewesen.« Ich nahm einen tiefen Zug. Der Rauch verschwand im Wind, und die Zigarette schmeckte nach gar nichts. »Ich bin, so schnell ich konnte, abgereist.«
    Sie nickte.
    »Und da hast du angefangen nachzudenken.«
    »Nun, ich glaube, in der ersten Woche habe ich allen Leuten die Geschichte erzählt. Es war, als würde die ganze Sache wieder und wieder ablaufen. Wie eine Tonbandschlaufe in meinem Bewußtsein. Ich konnte es nicht abschalten.«
    »Verständlich«, sagte sie.
    »Mir wurde dann klar, kristallklar, daß ich viele gefährliche Sachen gemacht hatte. Daß ich durch diese Länder

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