Exodus
Zynismus, pragmatischer Nihilismus, müde Raffgier. Doch die
Sehnsucht nach Heldentum sitzt irgendwo tief in uns, in mir und den
anderen, die ihre Wohnung noch nicht nach europäischem Standard
renoviert haben. Wir sollten im Namen von irgendwas leiden und
sterben, aber nun, wo all das egal ist und dumm, ziehen uns nur das
Leid und der Tod an. Wenn man nicht mehr weiß, wofür man
leidet, kann man wenigstens auf Verdacht hin leiden. Das ist kein
orthodoxes Christentum, nicht Dostojewski, das sind die Erzählungen
von Schukschin und die Lieder von Wyssozki.
Die
Sehnsucht sitzt uns im Blut, wir kauen Schmerz, er zieht uns ins
Grab.
»Hör
zu. Wir gehen jetzt, ich muss los. Ich glaube Folgendes, hörst
du? Ich glaube, du wirst folgendermaßen leben: Allerhand wirst
du erleben, aber nicht lange, ungefähr bis siebenundzwanzig. Ich
glaub echt nicht, dass du länger lebst. Du wirst dich quälen
und quälen, aber nur bis siebenundzwanzig, nicht länger.«
Sie
schaut betrübt in mein schlaffes, aufgedunsenes Gesicht. Überall
heulen Verstärker, rennen Leute rum. Ich liege halbnackt und
total breit neben einem Lagerfeuer, in Dreck, Asche, Gras, Wodka. In
diesem verwilderten Garten beugen sich alte Apfelbäume voller
Gram über mich, sie umfassen mich mit ihren dicken Ästen
und verhüllen mich vor meiner eigenen Scham und Schwäche.
Man
sagt uns überall: Sei du selbst, nur zu, sei du selbst. Doch was
ist, wenn das für viele Leute bedeutet, ein Arsch oder
Psychopath zu sein? Was, wenn es deine Natur ist, krank zu sein,
unglücklich, blöd und feige? Bist du dann auch noch bereit, du selbst zu sein?
In
einem solchen Fall muss man dieser Wahl mit großem Respekt
begegnen.
»Dafür
wirst du noch büßen«, schreit mich der rotwangige
Bengel mit dem Messer in der Hand an.
»Wohl
kaum«, antworte ich und steige aus dem Bus. Er hat mir die
Handwurzel durchlöchert, Blut strömt, ich winke ein Taxi
ran und fahre zu Sascha.
Er
hat kein Bett in seinem Zimmer, schläft auf einer Matratze, die
er tagsüber zusammenrollt, alles ist vollgestellt mit Drehbank,
Fräse, Elektrohobel, überall stapeln sich Bretter,
unfertige Werkstücke, Medikamente, über allem hängt
ein großer Boxsack. Sascha bereitet sich auf den Krieg vor, er
trainiert täglich, arbeitet jeden dritten Tag auf dem
Rettungswagen, geht am Wochenende in die Kirche, baut Möbel und
liest auf seinem Handy extremistische Literatur. Er ist bereit für
die Invasion, den totalen Kollaps der Dritten Welt, einen neuen Krieg
des Nordens gegen den Süden, fürs Armageddon. Er kann sogar
im Sumpf eine Blockhütte aus Baumstämmen bauen. Jetzt näht
mir Sascha im Badezimmer über einer Zeitung die Hand.
»Halt
dich heute zurück, die Wunde fängt sonst wieder an zu
bluten. Letztes Mal hattest du meinen Gips nach zwei Tagen im Arsch.«
»Mach
mal fester, ist schon okay. Ich muss mir heute Abend noch ein paar
Wichser vornehmen.«
»Ihr
seid alles Stümper, das ist keine sehr ehrenvolle Gattung.
Andere klauen und töten, um etwas zu essen zu haben, doch ihr
lasst euch für nichts und wieder nichts klarmachen. Das geht
nicht. So werden uns die aus dem Süden vernichten.«
»Es
braucht nicht mal welche aus dem Süden, die Mehrheit in dieser
Stadt sind hoffnungslose Nörgler und neidische Wichser, die dir
im Schlaf die Kehle durchschneiden. Wir dagegen habens voll drauf.
Wir leben, verstehst du, und wir leben gut. In drei Jahren haben wir
viel geschafft – wir waren zehn, jetzt sind wir an die hundert,
und wir werden noch mehr. Junge Leute, die im Leben keine Chance
hatten, haben etwas erreicht, fühlen sich wie gute, wertvolle,
starke Menschen. Nicht wie Feiglinge, nicht wie Verräter, nicht
wie die, die nach einer kuscheligen Ecke suchen, nicht wie all diese
Stadtidioten, die keinen Schimmer haben, was bei ihnen im Hof
los ist. Klar hat es sich gelohnt. Tja, und wir hatten Spaß,
klar, immer feste.«
»Worum
geht es in dem Lied?«, fragt Sascha den Tadshiken, der im
24-Stunden Schawarma-Laden Kohl schneidet.
»Um
Mama.«
»Im
vorigen ging es doch auch um Mama, hast du gesagt.«
»Und
in dem hier geht es ebenfalls um Mama.«
»Siehst
du«, Sascha dreht sich zu mir um, »die werden gewinnen.«
Wir stehen in plumpen Wattejacken und Stiefeln gegen die Wand gelehnt
an roten Metalltischen, wir sind völlig durch. Von sechs
Uhr abends bis neun Uhr morgens sehen wir immer wieder dasselbe:
leere Fußgängerunterführungen, Dreck, Fäkalien,
halbverfaulte Menschen,
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