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Exodus

Exodus

Titel: Exodus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DJ Stalingrad
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unzurechnungsfähige Idioten, erfrorene
Leichen, Hunde, Bullen, Schnee. Das hat uns alles so dermaßen
abgestumpft, ist so in uns eingedrungen, dass wir fast vergessen
haben, wer wir eigentlich sind und was wir hier tun. Nur Dreck und
Kälte. Ira ist noch mit von der Partie, eine Krankenschwester
und Rockerbraut mit freundlichen, müden Augen, und Serjosha, ein
Schwergewichtsboxer. Er hat dauernd Hunger, ist arbeitslos und
wütend. Vor drei Jahren hat er seine Wohnung verkauft und ist in
ein Kloster in die Wälder gezogen. Dort fällte er
jahrhundertealte Bäume und ließ sich zwei Jahre lang einen
schwarzen Bart wachsen. Dann merkte er, dass alles, was er wirklich
will, ein normales Leben ist, mit einer Frau in einer Wohnung, im
Fernsehen Boxkämpfe gucken und so weiter. Er verließ die
Wälder, kam zurück nach Moskau und war ohne Wohnung, Arbeit
und Geld. Er nennt es Versuchung.
    Tja,
im Rettungswagen gibt es viele Versuchungen, hier habe ich aufgehört,
Menschenleben wertzuschätzen, habe die letzten Reste von
Mitgefühl verloren. Wir haben dauernd Obdachlose vermöbelt,
die sich im Wahn auf uns stürzten, sie spürten keinen
Schmerz mehr, man konnte sie ohne Ende schlagen. Was sollen sie schon
spüren, wenn die Hälfte ihrer Körper mit Gangränen
und nekrotischen Geschwüren übersät ist. Du hungerst,
vom Hunger kriegst du Nekrosen, du wärmst dich an
Fernwärmeleitungen, kriegst Verbrennungen am Rücken, im
Winter schläfst du draußen, morgens sind ein paar Finger
erfroren. All das fault und führt unvermeidlich zu Gangränen.
Dann fangen Leute wie wir an zu amputieren, wie eine Wurst, immer
weiter und weiter, bis von deinen Beinen nichts mehr übrig ist.
Um den Schmerz nicht zu spüren, trinkst du den Badreiniger Russischer Norden , dadurch stirbt ein Teil der Zellen deiner
Großhirnrinde, und du wirst verrückt. Nebenwirkungen. Du
scheißt dir in die Hose und denkst, dass alles in Ordnung ist.
    Die
Leute starben oft vor unseren Augen. Sie lagen in leeren, kalten
Unterführungen, und wir standen neben ihnen. Manchmal betete
Irka, sprach den 22. Psalm. Einmal kamen wir zu einer Leiche, die
Hunde hatten schon das Gesicht abgefressen. Ein andermal fanden wir
einen Kerl in einem Dachverschlag, er lag dort schon seit dem Herbst
auf dem Boden. Er war gelähmt, hatte die letzten drei Monate
unter sich gemacht. Als der Frost kam, fror das alles mit seinem
Körper zu einem Klumpen zusammen. So lag er lebendig bis März.
Um ihn herum wirtschaftete und stöhnte eine Verrückte, sie
fütterte ihn die ganze Zeit mit einem Löffel, streichelte
ihn, küsste die blauen Tätowierungen, mit denen sein ganzer
Körper bedeckt war. Sie war völlig weggetreten, sprach
schon fast keine menschliche Sprache mehr. Ein Typ aus dem
Nachbarhaus rief den Rettungswagen, sein Hund hatte den Geruch
verwesenden Fleischs gerochen.
    Wir
bekamen den Kerl einfach nicht vom Boden los. Er war auf ewig
festgeforen. Dann fiel uns was ein – wir kochten im Kessel
Wasser und übergossen ihn mit dem siedend heißen Zeug. Der
Verschlag füllte sich mit Dampf und einem Gestank, den man nie
vergisst. Der Kerl begann ein bisschen zu stöhnen. ­»Wolodja,
Wolodenka, tut dir das nicht weh?«, lallte seine besorgte
Freundin. Es tat ihm nicht weh, er bekam nichts mehr mit, der Körper
war zur Hälfte abgestorben. Oder vielleicht doch, ich weiß
es nicht. Ich begoss ihn mit kochendem Wasser, da klingelt mein
Telefon, ich drücke mit der anderen Hand den grünen Knopf –
geil, wieder ein Gemetzel im Zentrum, Verletzte, Verhaftete. Nein,
ich kann jetzt nicht aufs Revier kommen, ich bin bei der Arbeit. Lass
uns morgen reden, tschüß.
    Wolodja
wurde ins Leninzimmer eines Moskauer Krankenhauses gebracht. Das ist
ein Raum ohne Möbel direkt neben der Aufnahmestation jedes
städtischen Krankenhauses. Da werden alle Obdachlosen
reingeschleppt, und dann wird abgeschlossen. Dort ist er
wahrscheinlich gestorben.
    Unser
Chef, der orthodoxe Enthusiast Iljuscha, achtete streng auf die
moralische Verfassung seiner Mitarbeiter, entließ Männer
wegen Alkohol, Flucherei, aggressivem Verhalten. Seine
Stellvertreterin Margarita Michajlowna, eine große dünne
Frau mit blassen, ­schmalen Lippen, deckte unseren Unfug und gab
uns extra Fresspakete, machte uns Tee. Ein Jahr später erfuhr
ich, dass man sie beerdigt hatte, sie hatte schon lange Krebs. Der
Patriarch von ganz Russland verlieh Iljuscha für Akte der
Barmherzigkeit den Orden des Heiligen Andreas des

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