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Exodus

Exodus

Titel: Exodus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: DJ Stalingrad
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direkt im Zentrum und
warten, bis man uns hinterherkommt. Ein paar Typen aus Minsk gesellen
sich zu uns, sie sind bereits seit dem Morgen hier und haben in der
Stadt bisher keine Bewegung bemerkt. Das Warten dauert schon mehr als
drei Stunden. Wir beschließen, uns zum Stadion aufzumachen,
ihnen entgegenzugehen. Wir marschieren in Kolonnen über
Boulevards und Prospekte, das Lied der Musketiere dröhnt durch
die ganze Stadt. Neben mir läuft ein Typ und brummt mit Blick
auf das Stepan-Bandera-Denkmal begeistert: »Halt aus,
Mütterchen Russland, der böse Wanka aus Kaluga ist gekommen
und wird sich für dich prügeln ...«
    Der
Platz vor der staatlichen Universität, ungefähr vier Uhr
nachmittags. Wir stehen als massives Quadrat von sechzig Mann –
Kiewer, Minsker, Moskauer – so, dass der Flügel des
Gebäudes uns von hinten deckt. Aus dem Park gegenüber
stürzt ein Haufen einheimischer Idioten, mehr als hundert, sie
kommen tänzelnd auf uns zu und brüllen blödes Zeug.
»Einer für alle – alle für einen!«,
brüllen wir zurück, und die ersten Reihen treffen
aufeinander.
    Weiter
in Bildern: Zerschlagene Gesichter, zerfetzte Klamotten,
Asphaltbrocken, fliegende Mülleimer, ein langer Lulatsch aus
ihren Reihen rennt nach vorn, erkennt mich und schreit überrascht:
»Warum sitzt ihr nicht?« Dann alles wie im Drehbuch:
Schüsse in die Luft, Spezialeinheiten mit ihren Kosmonautenhelmen rücken an, alle werden auf den Asphalt gelegt,
dann mit dem Gesicht an die Wand, dann auf die Wache. »Moskauer
Dreck?« Ein Bulle im Vorzimmer wedelt verwundert mit meinem
Pass. Wir werden auf mehrere Zellen verteilt, ich komme in eine, in
der schon ein Bekannter aus Kiew sitzt und ein anderer Moskauer. Der
Moskauer hat eine heftige Gehirnerschütterung, hat den letzten
Rest gefickten Verstand verloren, fragt uns ständig: »Wo
bin ich? Wie, gabs eine Schlägerei? Und ich hab mich geprügelt?
Von wegen. Ihr verarscht mich doch!« Immer wieder dasselbe, im
Abstand von einer Minute. Verlust des Kurzzeitgedächtnisses.
Nach einer Stunde haben wir die Schnauze gestrichen voll.
    Ich
stehe an der Eisentür einer stinkenden Zelle in einer Stadt, in
der es eine Dschochar-Dudajew-Straße gibt, habe über fünf
Tage nicht geschlafen, war mehr als zwei Monate nicht zu Hause, im
Korridor laufen ukrainische Bullen auf und ab, und neben der Latrine
wiederholt ein blutüberströmter Kerl zum tausendsten Mal:
»Von wegen! Ihr verarscht mich doch!«
    Schön
gefeiert.
    »Ich
leide an Hypoxie der Gehirnrinde. Wir sind alle krank. Und diese
Leute sind auch krank«, sagt Oleg, gerichtsmedizinischer
Gutachter im Bereich Psychiatrie. »Deswegen packt es mich immer
mal und ich muss was tanken.«
    Wir
trinken Wodka im Stehimbiss, in unserer Tschebureki-Bude, wie immer.
    »Dein
Leben ist sicher nicht leicht«, sage ich zu ihm. »Du
schaust Leute an und merkst sofort alles, jeden in seine Schublade,
für jeden eine Diagnose.«
    »Stimmt,
aber was solls, man gewöhnt sich dran. So ist nun mal die
menschliche Natur. Die Bandbreite der Abweichungen ist gar nicht so
groß, und die Menschen sind nicht sonderlich unterschiedlich.
Es ist keine Sünde, dass man zu einem von einem paar Dutzend
Typen gehört. Man kann Kinder kriegen, mit irgendwas Erfolg
haben, irgendwie seine Freizeit verbringen. Das ist doch okay.«
    »Wahrscheinlich.
Und man braucht nicht mal eine Seele, die wird per Sozialpsychologie
und Statistik abgeschafft.«
    »Alles
ist Statistik. Weißt du, Schizophrenie – die Krankheit
gibt es nicht. Alle Leute neigen mehr oder weniger dazu, sie ist Teil
der menschlichen Natur, die Neigung zu schlimmeren Verläufen ist
Vererbungssache. Wenn wir eine Diagnose stellen, klugscheißern
wir nicht oder quatschen Blödsinn wie all die Psychologen oder
Psychoanalytiker. Ich schau nur: Haben wir es schon mit einer
Dissoziation der Persönlichkeit zu tun, das heißt, kann
dieser Mensch noch in der menschlichen Gesellschaft leben oder nicht?
Denn alle Genies sind schizophren. Der Unterschied ist nur, dass sich
das bei dem einen darin äußert, dass er riesige Zahlen
addiert, Bilder malt oder Sinfonien schreibt, und bei dem anderen,
Bonbonpapiere zu sammeln oder nicht seine Schnürsenkel zuknoten
und für sich sorgen zu können. Bis hin zu physiologischen
Abweichungen, bei schweren Fällen. All diese Tätowierten,
die wir untersuchen, sind Zombies, leere menschliche Hüllen. Sie
zeigen einen völligen Persönlichkeitszerfall, wie ein
Müllhaufen. Sie ertränken

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