Exodus
Kinder, sitzen ihr Leben lang im
Lager ...«
Wir
trinken jeder noch einen.
»Weißt
du, in der Psychiatrie gibt es einen ziemlich extravaganten Ansatz:
Schizophrenie ist nichts anderes als ein weiterer von der Evolution
in uns angelegter Entwicklungsweg des Homo Sapiens. Möglicherweise
ist unter uns das Gen einer neuen Art verstreut, einer neuen
Menschheit, die einst kommen wird, die heutige abzulösen. Unter
bestimmten Bedingungen einer zukünftigen neuen Welt erweisen
sich vielleicht gerade diese Menschen als besonders fähig und
effektiv. Ich schaue mich schon jetzt um, in der Metro zum Beispiel,
rundum klinische Fälle noch und nöcher. Ich habe Angst um
meinen Sohn. Wenn der groß ist, gibt es auf den Straßen
wahrscheinlich nur noch Psychopathen.«
Ich
habe es mittlerweile gelernt – du musst immer lügen. Daran
ist nichts Verwerfliches, Krieg ist Krieg. Du bist mitten im
Feindesland, sehr gut getarnt, hast gefälschte Papiere, eine
gefälschte Geschichte, Vergangenheit, eine Legende. Der Satan
versucht, dich zu finden, aufzuspüren, zu neutralisieren, aber
du verfügst über ordentlich viel Scharfsinn und einige
Jahrzehnte, um ihn bis zum Schluss erfolgreich zu betrügen und
als Sieger vom Feld zu gehen. Es gibt keine Gesetze und Regeln, alle
Gebote sind längst veraltet, mittlerweile benutzt der Böse
sie selbst, um dich unter Kontrolle zu halten. Du brauchst nur einen
Fehler zu machen, deine Identität preiszugeben – und du
bist abgeschrieben. Dann klebt er dir ein Schildchen an die Stirn und
den rechten Arm: heilig , ehrlich , guter Junge , Kumpel , Faulpelz , Dussel , Bettler , Idiot – da ist nichts zu machen, du wirst ihm aufgetischt.
Deine
Aufgabe ist es, ihn zu betrügen, die Karten andauernd neu zu
mischen, ihn nicht zur Besinnung kommen zu lassen, ständig die
Kennwörter und geheimen Treffpunkte zu ändern. Dann kapiert
er vielleicht nichts, bringt alles durcheinander und merkt das
Wichtigste nicht, füllt deine Papiere falsch aus – und du
bist frei! Aber die Jungs, die immer die Wahrheit sagen und für
ewige Ideale kämpfen – in unserer Zeit sind sie seine
treuesten Diener.
Ich
schaue mich oft um und sehe einen Haufen attraktive Mädchen,
Studentinnen, Rockfans, Anhängerinnen von Gelagen und Partys.
Sie sind echt hübsch, mein Gott. Und ich frage mich, wo war ich
denn, als ich achtzehn war, als alles noch vor mir lag und das Leben
voller Wunder zu sein schien.
Ich
stieg damals auf einer Flussbrücke aus einem Dorfbus, bis zu den
Knien im Matsch lief ich über die Felder und durch die Wälder,
kam zu einem Kloster und bat um Unterkunft in einem Wohnheim für
Pilger. Dort waren schon rund dreißig Leute, alle schliefen in
einem großen Saal, der durch hölzerne Trennwände in
vier Bereiche unterteilt war. Der ganze Raum stand voller
Stockbetten, Rauchen und lautes Sprechen waren verboten, das Klo war
draußen.
So
begannen wir ein neues Leben. Um sechs Uhr aufstehen, Morgengebet im
unbeheizbaren Keller eines verfallenen Seitengebäudes, um acht
eine vegane Mahlzeit, Krautsalat und gekochte Kartoffeln ohne Butter,
dann wieder Gottesdienst in der Hauptkirche, dann den ganzen Tag
Arbeitsdienst. Asphalt zerschreddern, Bäume roden, graben.
Rundum ehrbares Publikum, ernste Leute mit schwerem Schicksal,
Trinker, Knackis, Vagabunden. Hier heißen wir alle gleich: Freiwillige . Viele leben ihr ganzes Leben als Freiwillige im
Kloster, ohne jemals Mönch werden zu wollen. Diese Leute haben
einen besonderen Blick, wie nach innen gewandt, die mageren Hände
mit hervortretenden blauen Adern überzogen.
Nach
der Arbeit wieder in die Kirche, dann Abendessen mit Tee, nach dem
Tee sind anderthalb Stunden Freizeit gestattet. Im Wohnheim das
Schild: »Gesegnet sei das Kochen von Wasser.« Um zehn die
Nachtgebete und gleich danach Zapfenstreich, überall geht das
Licht aus, die Leute hieven sich für sechs Stunden in den
Schlaf. Das alles heißt Athos’sche Ordnung , aber
kürzlich war ich in Athos, und irgendwie habe ich dort keine
solchen Abläufe erlebt ...
Nach
einigen Tagen intensiver Therapie merkst du, wie sich der Geist
verflüchtigt, wie du dich am kalten Morgen, während du
durch den Wald zum Gottesdienst gehst, im Nebel auflöst. Die
Augen erscheinen im Spiegel größer, vielleicht durch die
darunter hängenden Augenringe. Mein Freund, der vorhatte, für
immer hierzubleiben, und sich in ein paar Jahren zum Mönch
weihen lassen wollte, zerrte mich zu einem ausgewählten Treffen
mit dem
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