Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
vier- und fünftausend Jahren wissen.«
Eine der sechzehn Holzkisten, auf denen wir in der Korbhütte lagen, war mit Büchern über die ältesten Zivilisationen der Welt vollgepackt. In einem Werk über das alte Mesopotamien war ein Bild einer Steinplatte aus Ninive. Sie zeigte ein prachtvolles Relief von Schilfbooten in Krieg und Frieden auf dem Meer. Die Ruinen von Ninive liegen im Landesinneren, über 800 Kilometer von der Tigrismündung und 600 Kilometer von der phönizischen Hafenstadt am Mittelländischen Meer, Byblos, entfernt. Mesopotamiens Steinmetze, Soldaten und Handelsleute standen sowohl mit dem Mittelmeer als auch mit dem Persischen Golf in Verbindung. Die Steinplatte aus Ninive zeigt, daß die Seeleute zwei Arten von Schilfbooten kannten. Drei der Boote auf der Platte waren als Schilfbündel abgebildet, die nach Art der Ägypter zusammengebunden und an Bug und Achtersteven hochgebogen waren. Sie waren voll Menschen. Die Wellen um die Boote stellten das salzige Meer dar, weil eine höchst realistische, von schwimmenden Fischen umgebene Riesenkrabbe die Mittelpartie beherrschte. Bewaffnete Krieger waren in Zweierreihen an Bord gedrungen und trieben gerade die Besatzung der zwei größten Schilfboote ins Meer. Einige sprangen ins Wasser, andere schwammen, und ein drittes Schilfboot stand im Begriff, mit bärtigen Seefahrern, die sich in demütigem Gebet zur Sonne wandten, der Seeschlacht zu entfliehen. Eine gerade Küste und zwei kleine, mit hohem Schilf bewachsene Inseln begrenzten das Meer. Im Schilf lagen noch drei Schilfboote versteckt. Auf dem Boot an der entfernteren Insel knieten Seite an Seite kampfbereite Bogenschützen, aber auf dem Festland und auf der nächsten Insel herrschte ein friedliches Idyll, Frauen und Männer saßen in Gruppen und Reihen auf den Schilfbooten und unterhielten sich mit freundlichen Gebärden.
Dieses Relief sagte uns viel. Unter anderem bemerkten wir den Unterschied zwischen den drei Booten auf dem offenen Meer und den drei im Uferschilf. An den erstgenannten waren Vorder- und Achtersteven wie bei den alten großen Booten in Ägypten und Peru hochgebogen, während sie in den Schilfsümpfen achtern quer abgeschnitten waren - ohne Schutz vor den Meereswellen, aber sehr geeignet, um an Land gezogen und täglich zum Trocknen hochkant gestellt zu werden, wie es bei kleinen Schilfbooten in der Alten und der Neuen Welt der Brauch war.
Während bis in unsere Zeit in Mesopotamien kleine Schilfboote überlebt haben, wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, daß auch in Ägypten einmal Schilfboote existiert hätten, wären sie nicht auf den alten Grabmalereien festgehalten worden; denn die Schilfboote sind zusammen mit dem Papyrusschilf in Ägypten verschwunden. Die beiden Bootstypen, die auf der Steinplatte von Ninive abgebildet sind, haben indes in Peru bis in unsere Zeit überlebt. Die Spanier hatten beide Typen nebeneinander an der ganzen Küste des Inkareiches vorgefunden. Vereinzelte Exemplare sind immer noch im Gebrauch, und zahlreiche Bilder auf Mumiendecken, Tonkrügen und Reliefarbeiten aus der ältesten Vor-Inkazeit dokumentieren, daß sich beide Typen unverändert erhalten haben, seit sich die ersten Pyramidenbauer an der Küste niederließen und Schilfboote beim Fischen auf hoher See abbildeten.
Dank der realistischen Kunst in den Ruinen von Ninive, in den Grabkammern des Niltals und in den Mumiengräbern an der peruanischen Ostküste wissen wir, daß gleichartige Schilfboote mit voller Besatzung einst ein wichtiger gemeinsamer Kulturfaktor der ältesten Zivilisationen in Kleinasien, Nordafrika und Südamerika waren. Nachdem die mächtigen Zivilisationen des Altertums zugrunde gegangen waren, existierten kleine Schilfboote beider Typen in einem Kreis um Ägypten weiter: in Mesopotamien, Äthiopien, Zentralafrika, auf Sardinien und in Marokko auf der einen Seite des Atlantiks, auf der anderen Seite im ganzen altamerikanischen Kulturgebiet bis hin zur Osterinsel. Wir befanden uns nun mit einem Affen und einer Ente in der amerikanischen Hälfte an Bord eines afrikanischen Fahrzeugs, und wir fragten uns, ob die Grenze so zuverlässig war, wie es nach der Karte den Anschein hatte. Verlief die Grenze längs der Mittellinie des Atlantiks, die wir schon längst hinter uns gelassen hatten, oder führte sie an einer der Küsten entlang? Es handelt sich ja um schwimmende Fahrzeuge - können wir die Grenze auf der Karte festhalten, d.h. eigentlich auf dem Meeresgrund, oder
Weitere Kostenlose Bücher