Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
echte Verzweiflung. Santiago hatte gesagt, daß wir mit dem Wasser an Bord sparsam umgehen müßten, jeder konnte nur einen Liter am Tag bekommen. Abdullah brauchte mindestens fünfmal soviel, sagte er, denn er mußte sich vor jedem Gebet zu Allah Arme und Beine, Kopf und Gesicht waschen. Er betete fünfmal täglich.
»Zum Gebet kannst du Meerwasser nehmen«, erklärte ich. Aber das durfte Abdullah nicht. Seine Religion verlangt sauberes Wasser für die zeremoniellen Waschungen. Das Meerwasser enthielt Salz.
Bevor das Salzproblem gelöst war, wurde Abdullah aufs neue erschreckt. Georges hatte das schläfrige Äffchen Safî aus seinem Bett in einem Pappkoffer geholt, und aus lauter Freude hatte die kleine Dame auf Abdullahs Matratze versehentlich eine kleine Pfütze hinterlassen. Jetzt geriet Abdullah vollkommen außer sich. Hatte der Affe das gemacht? Wenn Hund oder Affe ihre Notdurft auf den Kleidern eines Gläubigen verrichten, so kann er erst nach 40 Tagen wieder zu Allah beten! Abdullah rollte mit den Augen und war völlig verzweifelt. Vierzig Tage ohne Allahs Hilfe!
Georges rettete Abdullahs befleckte Moral mit einer Notlüge. Es war gar nicht der Affe; Meerwasserspritzer waren es gewesen. Praktisches Wunschdenken ließ Abdullah die Erklärung akzeptieren, ohne daß er seine Nase tiefer in das anrüchige Problem steckte. Ich beteuerte, daß der Affe jetzt auf jeden Fall eine Hose tragen würde und überdies nimmermehr auf Abdullahs Matratze sitzen dürfe.
»Abdullah«, fügte ich hinzu, »du brauchst sauberes Wasser für deine Gebete, aber hast du einmal daran gedacht, wie viele Affen und Hunde an den Gewässern des Tschad leben? Hier draußen gibt es meilenweit keine Hunde, und was die kleine Safî von sich gibt, lassen wir achtern zurück. Nirgendwo in der Welt findest du saubereres Wasser als auf dem Meer.«
Abdullah lauschte und dachte nach. Einen Augenblick später studierte er lange einen Segeltucheimer voll Meerwasser. Dann begann die zeremonielle Waschung mit rasender Geschwindigkeit und mit der graziösen Fingerfertigkeit eines Zauberkünstlers. Danach war Abdullah oben beim Kompaß, wo ihm Juri half, die ungefähre Richtung nach Mekka zu bestimmen. Mit der Ernsthaftigkeit eines tiefgläubigen Mönches kniete er sich auf seine Matratze in der Hüttenöffnung und verbeugte sich wiederholt gen Osten, die Stirn bis auf die Matratze. Dann zog er seine lange Perlenschnur hervor und begann, seine Gebete zu sprechen. Die Gebete rollten an der Perlenschnur entlang wie Erbsen aus dem Sack; aber Abdullahs Inbrunst war so echt, daß wir alle seine felsenfeste Überzeugung respektieren mußten, ob wir nun Kopte oder Katholik, Naturphilosoph, Protestant oder Atheist waren. Alles war in unserer zusammengewürfelten kleinen Gesellschaft an Bord vertreten.
Nach der körperlichen und seelischen Reinigung Abdullahs standen wir gemeinsam mit Bohrer und Messer auf der Brücke und versuchten, das abgebrochene Ruderblatt wieder an seinem Schaft zu befestigen. Abdullah war strahlender Laune und sang und trampelte den Takt zu zentralafrikanischen Dschungelklängen. Eine kräftige Tauzurrung, kombiniert mit Carlos alpinen Knotenkünsten, sollte gerade das Werk vollenden, als ein paar heftige Windstöße aus verschiedenen Richtungen quer auf das Segel trafen und es drehten, ohne daß es uns - wegen des fehlenden Steuerruders - gelang, das Boot zu wenden. Jetzt warf sich der Wind mit voller Wucht von vorn gegen das große Segel. Die schwere, sieben Meter lange Rah, an der das Segel hing, schlug so kräftig gegen die Mastspitze zurück, daß dort oben das Holzwerk zu brechen drohte, und das riesige Segel flatterte wütend durch die Luft und drohte am Mast zu zerreißen. Es warf Obstkörbe um und hakte sich am Hühnerkäfig fest; unser Federvieh gackerte und drohte unsere Kommandorufe zu übertönen. Plötzlich schwamm ein viereckiger Proviantkorb im Kielwasser und trieb aufs Meer hinaus. Keiner ahnte, was er enthielt, denn der Proviantmeister Santiago hütete das Bett, und er hatte das kleine Verzeichnis. Juri mußte ihn und Norman fast mit Gewalt in den Betten zurückhalten, während ich auf die Brücke kletterte und versuchte, den Kampf gegen das acht Meter große Segel zu organisieren. Der Ruf einer menschlichen Stimme ging in den Sturmböen unter und wurde von ihnen - zusammen mit dem Flattern, Knattern und Heulen des Segels und der Papyrusbündel - über schäumende "Wellentäler hinausgetragen. Es nützte nichts, das
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