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Exponentialdrift - Exponentialdrift

Titel: Exponentialdrift - Exponentialdrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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sie die Entschlossenen. Weil sie zu allem entschlossen sind.«
    Fortsetzung folgt ...

10. Juli 2002
Bei einem schweren Unwetter kommen in Berlin vier Menschen ums Leben.

FOLGE 42
    H ARTMUT DUNS, REFERATSLEITER im Auswärtigen Amt, rieb sich das Ohr, anstatt einzusteigen. »Ein komischer Pfeifton«, erklärte er dem wartenden Chauffeur. »Plagt mich schon den ganzen Tag. Als ob ich gestern in einer zu lauten Disco gewesen wäre.«
    »Und?« fragte der Mann mit der Statur eines Ringers, geduldig die Wagentür offenhaltend. »Waren Sie?«
    »Ach was. Man kommt ja zu nichts.« Der Referatsleiter schwang seine Aktenmappe auf den Rücksitz des schweren, gepanzerten Dienstwagens und sich selbst hinterher. Als die Tür mit sattem Ton ins Schloß fiel, schien aus dem Pfeifen im Ohr ein leichter Schmerz zu werden.
    Der Chauffeur stieg seinerseits ein, der Wagen rollte an. Hantieren mit Ausweisen an der Ausfahrt, dann ging der rotweiße Balken der Schranke hoch. Einer der Bundesgrenzschutzbeamten, die hereinkommende Fahrzeuge kontrollierten, warf einen gleichgültigen Blick herüber – ausfahrende Autos waren unverdächtig. Sie ordneten sich in den fließenden Verkehr ein, wurden zu einem nicht weiter auffallenden Bestandteil des Verkehrsstroms.
    Nur daß mit jedem Meter die Kopfschmerzen zunahmen. Hartmut Duns verzog das Gesicht. Der Wagen glitt ruhig dahin, bestens gefedert und gedämpft, trotzdem schien jeder kleine Schlag, der ab und zu, ausgelöst von einem überstehenden Kanaldeckel oder dergleichen, durchkam, einen blanken Nerv zu treffen.
    Der Referatsleiter massierte seine Schläfen, sah aus demFenster. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie viele Apotheken es in Berlin gab. In Apotheken gab es Kopfschmerztabletten. Er hatte noch nie im Leben Kopfschmerztabletten gekauft, fühlte sich eigentlich auch noch zu jung dafür, aber Himmel, dieses grelle Ziehen im Schädel!
    Er öffnete die Aktenmappe, holte die Zeitung heraus, schlug sie auf, las, daß im Park um die Archenholdt-Sternwarte zwei Ärzte, darunter ein bekannter Neurologe, erschossen aufgefunden worden waren. Das Weiß des Papiers tat in den Augen weh. Nein, das war keine Ablenkung. Er stopfte alles zurück, ließ das Schloß zuschnappen, schloß die Lider. Nicht auszuhalten. Mit derartigen Kopfschmerzen würde er unmöglich einen mehrstündigen Flug überstehen. Abgesehen davon, daß der Außenminister volle Einsatzbereitschaft von ihm erwartete.
    Bestimmt gab es an Bord etwas. Tabletten gegen Reisekrankheit, Übelkeit, Kopfschmerzen und so weiter, das gehörte doch sicher zur Standardausstattung eines Flugzeugs. Vielleicht war es eine Grippe, die sich da ankündigte. Oder Migräne? Wenn das Migräne war, dann verstand er endlich, daß seine Mutter immer so geklagt hatte.
    Hartmut Duns versuchte, den Kopf locker zu halten und die Bewegungen des Fahrzeugs mit dem Körper abzufedern. Er stöhnte leise, als es um eine Kurve ging. Die Umrisse der Straßenschilder draußen flimmerten. Plötzlich war er davon überzeugt, daß er es bis zum Flugplatz nicht mehr aushalten würde.
    Wieder ein Bremsmanöver. Rote Ampeln. Scharen von Fußgängern. Eine Baustelle um die Ecke, zähes, ruckelndes Vorwärtskämpfen, Wagen um Wagen. Hupkonzerte. Und dort vorn war eine Apotheke.
    »Können wir bitte ...?« sagte er mühsam, beugte sich vor, war sich nicht sicher, ob es ihm gelungen war, Worte zu formen. »Können Sie ...?«
    Er hielt inne. Sein Blick war auf einen Mann gefallen, einen schlanken Mann, der einen langen, dunklen Mantel trug und reglos am Straßenrand stand, keine zwanzig Meter entfernt, neben einem Laternenmast, unverwandt in seine Richtung starrend. Als sehe er ihn durch die getönten Scheiben hindurch. Als wisse er genau, daß er hier saß und diesen Blick erwiderte.
    Als habe er auf ihn gewartet.
    Hartmut Duns war sich plötzlich sicher, daß dieser Mann schuld war an seinen Kopfschmerzen. Dieser Mann war ...
    Gefährlich!
    Duns langte nach vorn, krallte die Hand in die Lehne des Beifahrersitzes, warum sah dieser Chauffeur nicht her, verdammt? Seine Stimme versagte, weil es ihm jeden Knochen im Kopf zerbröselte. Sie mußten umdrehen, abbiegen, irgend etwas, Hauptsache weg von diesem Mann im dunklen Mantel.
    Der Schmerz zog sich auf einem Punkt in der Mitte seiner Stirn zusammen und bohrte sich von da aus hinab, mitten hinein in seinen Schädel, und dort verwandelte er sich in etwas Entsetzliches, etwas so abgrundtief Fremdartiges, daß die menschliche Sprache

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