Exponentialdrift - Exponentialdrift
Internet und hatte in der Tat diese E-Mails geschrieben.
Er strahlte jene intensive, kreativ-drängende Dynamik aus, die man vermutlich braucht, wenn man so etwas wie eine weltberühmte Zeitung dirigieren muß und die mich immer beeindruckt, wohl, weil sie mir selber völlig abgeht. Wir unterhielten uns, er fragte nach meinem Werdegang, meiner Arbeitsweise und dergleichen, wollte allerhand wissen über die Science-Fiction in Deutschland und schien erstaunt, zu hören, daß ich mich keineswegs als Science-Fiction-Autor betrachte, sondern als ganz normalen Autor, in dessen Geschichten aus irgendwelchen Gründen einfach öfter mal Raumschiffe, Außerirdische und Zeitreisen auftauchen. Zu meiner Verblüffung hatte Schirrmacher nicht nur »Das Jesus Video« gelesen, sondern sogar »Quest« (nicht nur das, es hatte ihm sogar gefallen!), und mit »Eine Billion Dollar«hatte er gerade angefangen. Wir sprachen über das Human Genom Projekt und darüber, wie technische und wissenschaftliche Entwicklungen die Gesellschaft verändern und ob in der Science-Fiction nicht eher als in der »normalen« Literatur wenn schon nicht die richtigen Antworten, dann doch zumindest die richtigen Fragen zu finden sein könnten.
»Ich habe noch einen Anschlag auf Sie vor«, sagte Schirrmacher nach etwa einer Stunde schließlich in einem wir nähern uns dem eigentlichen Anliegen des Gesprächs-Ton.
»Aha«, erwiderte ich und vermutete nichts Ärgeres als den Wunsch nach vielleicht einer kleinen Abhandlung zu irgendeinem Science-Fiction-Thema.
Er plane, erzählte er, mit der Sonntagsausgabe der FAZ, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die bislang nur im Rhein-Main-Gebiet erhältlich war, einen Relaunch zu starten mit dem Ziel, sie bundesweit auf dem hartumkämpften Markt der Sonntags-und Wochenzeitungen zu etablieren. Er erzählte ferner, daß er im Zuge dessen gerne etwas Aufsehenerregendes machen würde. Etwas Neues. Etwas Unerhörtes. Etwas, das in der Tat seit Charles Dickens niemand mehr in dieser Form gemacht habe ...
»Einen Fortsetzungsroman«, sagte ich.
Ich glaube, ich habe ihm ein bißchen die Pointe verdorben.
Aber wie der Zufall so spielt, hatte ich kurz zuvor endlich Oliver Twist gelesen, extrem stilvoll auf meinem eBook, und beim Lesen noch gedacht, wie schade es war, daß die Spezies des in wöchentlichen Fortsetzungen erscheinenden Romans ausgestorben ist, und wie gerne ich das einmal machen würde: ein Kapitel mit einem Knalleffekt zu beenden und zu wissen (na gut: zu hoffen), daß die Leser sich die ganze Woche fragen, wie es weitergehen mag 1 .
Schirrmacher hatte erwartet, mich überreden zu müssen, statt dessen rannte er offene Türen ein. Ich war verblüfft, daß er den letzten Fortsetzungsroman so weit zurückdatierte, ließ mich aber belehren, daß es zwar in deutschen Zeitschriften durchaus bis in die Fünfzigerjahre üblich gewesen sei, Romane in Fortsetzungen abzudrucken, diese Romane jedoch jeweils vorher komplett fertig vorgelegen hätten, allenfalls in der Länge der Kapitel auf den geplanten Umfang der einzelnen Folgen abgestimmt. Ihm schwebte dagegen ein Roman vor, der wirklich und wahrhaftig von Woche zu Woche fortgeschrieben wurde, »in Echtzeit«, wie er es formulierte.
»Jederzeit«, sagte ich. Und damit begann alles.
Die Randbedingungen waren, daß der Roman im Wissenschaftsteil der Sonntagszeitung erscheinen sollte, weswegen es wünschenswert erschien, daß er etwas mit science zu tun hatte. Science-Fiction eben.
»Kein Problem«, sagte ich. Schließlich habe ich meine ganze Jugend hindurch Perry Rhodan gelesen. Der Fortsetzungsroman war sozusagen meine literarische Heimat.
Ich hatte in diesem Moment noch nicht den Schimmer einer Idee, was ich schreiben würde, aber zugleich auch nicht den geringsten Zweifel, daß mir schon etwas einfallen würde. Im Grunde war die erste Idee, die mir kam, die, daß es nicht genügte, das Kunststück fertigzubringen, einen Roman in wöchentlichen Folgen zu schreiben – der Leser mußte auch sehen, daß man das tat. Und die augenfälligste Möglichkeit, es zu beweisen, war, in den einzelnen Episoden auf aktuelle tatsächliche Ereignisse Bezug zu nehmen.
Mit diesem Gedanken löste ich helle Begeisterung aus. »Das ist mutig«, meinte Schirrmacher.
Ich habe das in der folgenden Zeit noch öfter gesagt bekommen, deswegen will ich bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß meines Erachtens der Mut entschieden aufseiten des Herausgebers lag, der immerhin
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