Export A
den Tascheninhalten wieder her, indem ich die linke mit einer rosafarbenen Packung »fat-freepigs« auffülle, die ich nicht bezahle. Stolz trage ich meine Beute nach Hause, nehme Schnee und Nässe und Kälte, Dunkelheit und Windstöße gelassen hin, durchquere schließlich Garten, Veranda und Vordertür und steuere zielstrebig auf Joshs Zimmer zu. Im Gehen streife ich die durchnässten Turnschuhe ab. Um die Sockensohlen zu trocknen, schlurfe ich über den Teppich im Untergeschoss bis zur dritten Tür. Ich klopfe und schiebe mich, ohne eine Antwort abzuwarten, zwei erstaunten Gesichtern entgegen.
Josh, Graham und ich. Keine weiteren Zeugen. Damit das so bleibt, lehne ich mich vorsichtshalber mit dem Rücken gegen die Tür. Lässig ziehe ich den Umschlag aus der Jackentasche, mache eine kleine Bewegung aus dem Handgelenk und lasse das weiße Rechteck auf Josh zu segeln.
Endlich sehe ich ihn fassungslos. Sein Blick springt irritiert zwischen mir und dem Umschlag hin und her.
Auch Graham sitzt, als er mitbekommt, wie viel in dem Umschlag steckt, mit offenem Mund und ungläubigen Staunaugen da. Nachdem die Botschaft, dass auch er von diesem kleinen Reichtum profitieren soll, zu ihm durchgedrungen ist, ist er geradezu gerührt. Ich winke ab und setze mich zwischen zwei feuchte Augenpaare.
Warum könnte jemand den Wunsch haben, sein Geld an Schulabbrecher, Kleinganoven, Falschschwörer und Allesversprecher, an chaotische Stoner und gescheiterte Existenzen zu verschwenden?
Die verdienen weder Vertrauen, noch Großzügigkeit!
Was ihnen zustünde, wären ein paar Ohrfeigen, vorwurfsvolle Predigten und einige beherzte Tritte in den Hintern!
Ja, ja. Weiß ich alles. Und es ist mir egal. Scheißegal.
Ich bezahle nicht nach Leistung.
Seit zwei Monaten schon begleiche ich Joshs und Derricks Miete. Nicht, weil ich großzügig, nicht, weil ich der Samariter des Hauses bin, sondern aus Eigennutz. ICH will hier leben. Ich brauche diesen Ort. Nur heute noch, nur morgen noch, bitte, bitte, ein kleines Weilchen noch … Die Blase darf nicht platzen.
Außerdem bin ich die Neue, eine misstrauisch beäugte Fremde … Warum also nicht sich einkaufen in den Kreis? Die Freundschaft der Jungs kann ich nicht kaufen, das weiß ich, aber was ist mit ihrem Vertrauen?
Ich will dabei sein, bei den nächtlichen Streif- und Raubzügen durch Whitehorse , dabei sein, wenn die Deals gemacht werden, will nicht ausgeschlossen, zurückgelassen und am nächsten Morgen von Josh ermahnt werden, doch mal wieder zur Schule zu gehen. Wer will schon das dumme, naive Mädchen sein? Was bedeuten dagegen diese Scheine für mich, diese labberigen Dinger, die mir nicht wertvoll erscheinen wollen? Sie bedeuten mir nichts.
Ein Bild aus alten Tagen entsteht in mir. Ich sehe mich mit meiner selbstgebastelten Laterne, winzig klein neben einem Pferd und einem Reiter in rotem Mantel. Mein erster Sankt Martins-Umzug. Die Hälfte der Kinder bekam ein Gebäck aus Hefeteig in die Hand gedrückt, mit der Anweisung, es zu teilen. Ich wollte das nicht. Gab die Hälfte des Brötchens nur ungern an das rotznasige Kind neben mir ab. Der Weg durchs Dorf war lang. Ein kleiner Rest des süßen Gebäcks klebte an meinem Gaumen. Mit knurrendem Magen musste ich mit ansehen, wie die andere Hälfte meines Brötchens im Mund des Triefnasenkindes verschwand. Ich hatte einen Wolfshunger!
Der Ritter beeindruckte mich nicht besonders. Mit einer lange hinausgezögerten, selbstgefälligen und pompösen Geste schnitt er den roten Stoff in zwei gleichgroße Stücke. Was war daran so besonders? Er brauchte das Ding ohnehin nicht, schließlich trug er eine dicke Rüstung, an der der Novemberwind abprallte, während meine arme Laterne wild hin- und hergeworfen wurde und bei jedem Windstoß erschrocken aufflackerte. Was hatte dieser Sankt Martin, der den ganzen Umzug lang faul auf seinem Pferd saß und sich tragen ließ, mit mir, dem frierenden und hungrigen Kind zu tun? Mein Magen schrie nach dem GANZEN Brötchen!
Jetzt lagen die Dinge anders. Ich war Sankt Lis’. Das grüne Papier zu teilen, fiel mir leicht. Mühelos setzte ich ein bescheidenes Nicht-der-Rede-wert-Lächeln auf und reichte die Scheine weiter.
Ich hungerte nach Gesellschaft. Es gab nichts zu verlieren. Gefangen in der schweren, filzigen Stundenmasse der Tage zählte ich auf die Gegenwart und Aufmerksamkeit der Jungs, hoffte auf ihre Stimmen, ihr Lachen und überraschende, lebendige Ereignisse, die wie Schwerter in
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