Extraleben - Trilogie
die beschissenen sechzehn Kilobyte als Grafik auf dem Bildschirm darzustellen und filmen das Ganze dann mit meinem Rechner ab.«
Ich schlage ein: »Machen Sie es so!«
In den folgenden dreißig Minuten explodieren wir in einem unglaublichen Nerdgasmus. Nick baut seinen Dienstrechner so auf, dass die eingebaute Chat-Kamera genau auf das Display des Grid zielt. Wie immer, wenn es um Technik geht, die man anfassen kann, produziert er, der Software-Guru, eine ziemliche Mikado-Konstruktion: Sein Rechner balanciert auf zwei Zahnputzbechern und wird nur von der Minibar-Karte und dem Pay-TV-Werbeaufsteller am Umkippen gehindert. Während seiner Bastelei habe ich auf dem Grid ein Programm geschrieben, das die Zahlen im Speicher ausliest und als kleine Klötzchen auf dem Monitor darstellt - in Basie, weil ich sonst nichts richtig kann und Tempo keine Rolle spielt. Schon nach ein paar Tests läuft das Programm einwandfrei, und auf dem Bildschirm des Grid erscheinen die ersten bernsteinfarbigen Quadrate. Das Muster sieht aus, als ob man sich den Schnee im Fernsehen mit der Nase an die Mattscheibe gepresst anschaut. Damit Nicks Kamera auch alles schön mitkriegt, mache ich jedes Bit auf dem Bildschirm so groß wie ein Leerzeichen. Das heißt, eine »0« ist ein schwarzes Leerzeichen, und eine »I« sieht aus wie ein Cursor. 240 Byte passen so auf den Minibildschirm. Um die nächsten 240 aus dem Blasenspeicher zu saugen und aufs Display zu bringen, braucht der Oldie ungefähr eine halbe Minute. Dass heißt, um alle privaten Daten des Besitzers abzufilmen, müsste eine gute halbe Stunde reichen. Überschaubar. Nach einigen Testläufe ist das Gehäuse des Grid so heiß, dass man es nicht mehr anfassen kann. Ich knipse die Zimmerbeleuchtung aus und schaue zum Beifahrer rüber.
»Bereit?«
»Bereit, wenn Sie es sind.«
Den kann ich ausnahmsweise zurückspielen ... Ich drücke auf Return.
»Dann lassen Sie mal den Rock runter, Agent Starling!«
Nick streichelt die Space-Taste des Dienstrechners ganz sachte, um seinen Mikado-Turm ja nicht zu erschüttern. Die Kamera läuft. Eine Sekunde später fängt der Grid an, still vor sich hin zu flackern. Obwohl Nicks Dienstrechner keinen Ton aufnimmt, schleichen wir extra vorsichtig zurück zu den Betten und lassen uns in Zeitlupe auf die Matratzen sinken. Bloß keine Erschütterungen! Und da sitzen wir dann, eine gute halbe Stunde, und genießen schweigend das Mäusekino. Wir schauen zu, wie ein Oldie aus dem Silicon Valley einem Baby, das vor drei Wochen im Perlflussdelta geboren wurde, eine Gutenachtgeschichte vorliest. Retro-Zen.
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Etwas ist anders als gestern Abend. Nur was? Durch das offene Fenster ziehen heiße Schwaden rein, die zwölf Stunden lang Asphalt, Bratwurst und Autopolitur aufgesaugt haben. Alle Flutlichter, die gerade eben noch die leeren Parkplatzreihen ausgeleuchtet haben, sind ausgegangen; jetzt strahlt nur noch das Logo des Baumarkts in die Nacht hinaus. Aber es ist niemand mehr da, um die Markenbotschaft zu empfangen. Über das menschenleere Gelände hat sich Dunkelheit gelegt, so schwarz und undurchdringlich wie zu der Zeit, als hier noch Zuckerrüben wuchsen. Nicht mal zwei Jahre ist das her. Was ist anders? Hinten über der Stadt glühen die Wolken. Es sind die Reflexionen der Straßenlaternen, der Scheinwerferbatterien vor den Großraumdissen und des Flutlichts, unter dem die Cops an der Einfallstraße die Wagen der Dorfdeppen kontrollieren. Dröhnt das Autobahnkreuz lauter als sonst? Nick hockt auf dem Bett und klickert auf der Tastatur seines Dienstrechners rum, um die Daten aus dem Grid zu entschlüsseln. Wie immer, wenn er sich konzentrieren muss, hat er alle Lichter im Zimmer ausgedreht.
»Jetzt nur noch entschlüsseln«, war seine letzte Ansage vor zehn Minuten. Wie genau er das macht, versucht er mir schon lange nicht mehr zu erklären. Zu aussichtslos. Bei manchen Themen geht selbst ihm irgendwann der missionarische Eifer aus. Still und effizient löst er das letzte Rätsel des Grid selbst - oder das erste. Abwarten. Unsere Überspielorgie hat jedenfalls funktioniert: Der Dienstrechner hat die Klötzchen auf dem Bildschirm des Grid tadellos abgefilmt, aus dem Clip die Daten zu extrahieren war für einen Videoprofi wie Nick eine Kleinigkeit.
»50, so«, flüstert er vor sich hin. In seiner Stimme liegt dieser Ton, den er für wirklich Wichtiges reserviert hat. Und dann beginnt das ewig gleiche Ritual: Langsam, Zentimeter für Zentimeter, dreht er
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