Extraleben - Trilogie
Korkdecken des vorigen Jahrzehnts ganz schnell verschwinden mussten, um Platz zu machen für Zeitungsständer aus Acryl und Poster von Patrick Nagel-das ist der Typ, bei dem die Frauen auf den Bildern immer so extrem rote Lippen haben und Tops tragen, wo an einer Seite die Schulter raus guckt. Nach einer weiteren Minute, die er mit schwer Atmen verbringt, schwingt sich Nick aus dem Bett.
»Wenn man nur so alt ist, wie man sich fühlt, bin ich heute morgen ziemlich alt.«
Er macht keine Anstalten, über sein kleines Witzchen zu lachen, sondern sagt nur leise »haha« - wie Nelson bei den Simpsons - und fängt an, seine Socken auf dem Boden zu sortieren. Zeit für eine kleine Verbitterung am Morgen: »Weißt du, woran du merkst, dass du echt alt wirst?«
»Ne«, sagt Nick, ohne hochzuschauen.
»Also, pass auf: Du sitzt gerade beim Friseur, und die nette Azubine ist im Prinzip schon fertig mit dem Schneiden. Nur noch einmal kurz die Koteletten mit der Maschine ausdünnen. So - fertig. Aber anstatt den Rasierer auszustellen, fuhrwerkt sie mit dem Teil da an der Seite weiter rum, ohne das, was sie tut, zu kommentieren. Du wirst misstrauisch und guckst in den Spiegel. Und dann siehst du, was sie da treibt. Blanker Horror! Sie macht die ersten Haare am Ohr weg. Am Ohr! Das ist der Moment, in dem du merkst, dass es echt bergab geht!«
Nick lacht sehr wissend.
»Ohhhh, ja. Oder: Es ist Sommer, du sitzt im Auto - Fenster alle schön runter - und hast irgendwas voll aufgedreht. Na, jedenfalls kommt dann die Autobahnausfahrt, und das Erste, was du machst, ist ...«
»... alle Scheiben hoch, damit an der nächsten Ampel keiner hört, was für eine peinliche Altherren-Scheiße du aufgelegt hast.«
Erlösendes Lachen. Dann fällt der Beifahrer in seinen professionellen Ton zurück.
»Sollen wir mal? Wir müssen schließlich noch die Floppys aus Dr. Irvings Nachlass retten.«
Die Nacht hat also doch nicht den Reset gebracht. Alles sieht nur neu aus, im Speicher schlummern in Wirklichkeit immer noch die Daten von gestern. Wir duschen, ziehen uns an und machen uns auf dem Weg in den Frühstücksraum, natürlich mit dem Grid unter Arm. Wir arbeiten an unserer Ignoranz und bestellen in Kuala Lumpur erst mal zwei amerikanische Frühstücke.
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»Have you been to the Petronas Towers yet?«, fragt der Taxifahrer freundlich. Leider können wir ihm nicht sofort antworten, da der Zuckerschock von fünf Pfannkuchen mit Ahornsirup gerade unsere Blutbahn erreicht hat, was wiederum dazu führt, dass wir wie Teenager auf dem Weg zur ersten Pfarrsaal-Disko auf dem Rücksitz zappeln und kichern. Nick ist zusätzlich high davon, dass er gerade heimlich mit Sabina telefoniert hat, während ich unter der Dusche war. Süß, er ist halt ein Guter.
»No!«, brüllt Nick schließlich übermütig zum Fahrer nach vorne. Der Inder zuckt leicht zusammen und stellt seine Versuche, ein Gespräch anzuleiern, sofort ein. Kuala Lumpur - das klingt so, als kämen von hier diese bengalischen Hölzer, die so schön rot und heiß brennen und mit denen wir als Kind unsere Big-Jim-Figuren immer in kleine Freddy Kruegers verwandelt haben. Sehr exotisch eben. Als ob an jeder Ecke ein englischer Offizier - Typ Higgy Baby aus »Magnum« - auf seiner Veranda sitzt und einen Gin Fizz schlürft. Heruntergekommene Kolonialvillen, an denen der Glanz des Empire langsam abblättert, genau danach klingt Malaysia. Fehlanzeige. Wie üblich kann die Wirklichkeit mit dem, was ein Leben vor dem Fernseher in unseren Köpfen hinterlassen hat, nicht mithalten. KL ist einfach nur ein Drecksloch. Was nicht heißt, dass die Stadt wirklich dreckig ist. Sie ist sogar ziemlich aufgeräumt, zumindest hier in der Innenstadt. Auf den rostrot gekachelten Bürgersteigen liegt kein Müll rum, und die gelben Straßenmarkierungen blitzen wie frisch gemalt. Alles richtig adrett, man merkt, dass nichts das Touristenauge von den tollen Türmen ablenken soll. Die sehen übrigens von Nahem irgendwie retortenmäßig und gleichzeitig kindisch aus. Mit diesen Zuckerbäcker-Kanten und den runden Kugeln an der Spitze erinnern sie an ein Küchengerät von Alessi, das Sabina ausgesucht haben könnte. Postmoderne vom Schlimmsten. Und selbst das einzig coole Feature, den Gang zwischen den Türmen auf halber Höhe, haben die Architekten dadurch verhunzt, dass sie von unten so hässliche Stahlstreben drangeklatscht haben. Okay, sie sind hoch, aber mehr auch nicht. Obwohl es aufgehört hat zu regnen,
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