Extraleben - Trilogie
nur lange genug wartet, wird jedes System irgendwann feuerfest.«
Mein Copilot schaut kurz zur Decke und nickt langsam, während er meine sicherlich kindische Schlussfolgerung überprüft.
»Am Ende des Tages schon - vorausgesetzt, es existiert keine Sicherheitslücke, die sich unentdeckt von den alten auf die neuen Systeme vererbt hat.«
Plötzlich geht ein Ruck durch die Maschine und MC Kranich greift wieder zum Mikro. Ladies and gentleman, the tower has cleared us for takeoff. Unsere Reise durch zweieinhalb Tage Dunkelheit kann beginnen.
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Hey, ignorance is bliss! Berger war der Coolste, oder besser gesagt: der Berger. Wer zu den ganz Großen gehört, verdient einen Artikel. Wie er wirklich hieß, weiß ich bis heute nicht und will es auch eigentlich nicht wissen, weil das den Nimbus töten würde. Der Berger, das war so einer, wie es ihn in jeder Oberstufe gibt - einer dieser Typen, die über den Dingen stehen. Sie sind so cool, so unabhängig, so erwachsen im guten Sinn, dass es einem den Atem verschlägt. Geheimnisvolle Figuren eben. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob der Berger überhaupt auf unsere Schule ging. Jedenfalls haben wir nie gesehen, dass er mal hinter einer Schulbank gesessen hat. Überhaupt: Weiter als bis zum Aufenthaltsraum mit dem Kaffeeautomaten ist er ins Schulgebäude anscheinend nie vorgedrungen. Angeblich hatte er einen festen Wohnsitz und Eltern, wobei auch das niemand so richtig bestätigen konnte. Alles, was wir von ihm kannten, waren er und sein Auto: Der Berger fuhr einen alten orangefarbenen MG-das Modell, bei dem oben am Ganghebel noch ein Overdrive-Knopf drauf ist, der, keine Ahnung, die Kiste irgendwie schneller macht. Gedrückt hat er ihn unter Zeugen natürlich nie, das wäre viel zu hektisch, viel zu uncool gewesen. Doch, doch, von Understatement verstand der Berger was, das muss man ihm hoch anrechnen, schließlich ist das gerade für Achtzehnjährige ein Fremdwort, erst recht, wenn sie am Ende der Achtzigerjahre aufwachsen. Der Mann war geradezu das Understatement in Person. Anstatt seinen oberlässigen Wagen auf Hochglanz zu polieren und jeden Morgen damit auf dem Schulparkplatz den Molli zu machen - was er locker gekonnt hätte -, ließ er die Kiste völlig verranzen und stellte sie um die Ecke hinter der Schule ab. Und als vorne die Plastikstoßstange abfiel, band er sie mit Paketschnur wieder dran. Wer ständig auf der Durchreise ist, hat eben keine Zeit für Reparaturen. Ein Mann im ewigen Transit. Doch der absolute Überspleen. sozusagen Understatement im Overdrive, war, dass er immer alleine fuhr. Der Berger hatte nämlich schon einen Beifahrer - ein altes braunes Bücherregal, das den ganzen zweiten Sitz seines Sportwagens belegte. Damit war die Kiste offiziell voll, und immer wenn sich ein Unwissender in Bergers Coolheit sonnen wollte, murmelte der irgendwas von »... Regal. muss ich noch zu ... fahren, sorry«.
Das klingt von heute aus gesehen ziemlich arrogant, war es aber nicht. Wer Berger kannte, nahm ihm das nicht übel. Tief in uns drinnen wussten wir alle, dass es einfach falsch wäre, wenn er nicht alleine in seinem Wagen säße. Die ganze Kinderkacke. um die sich unser Leben damals drehte, ließ der Berger links liegen. Fast geprügelt, fast Ampelrennen gewonnen, fast Mädchen klargemacht - in unseren Angeberstorys mit reichlich Konjunktiven, die wir Montagmorgen rausbliesen, kam er nie vor. Dabei sah er aus wie Pierre Cassa, der Typ, den Sophie Marceau in »La Boum 2« kriegt. Wenn er auch nur eine Minute das verdammte Regal aus seinem Wagen geräumt hätte, wäre sofort ein Mädel reingesprungen, um seine dreams zur reality zu machen. Doch das hätte nicht zu einem Mann gepasst, der nur einen vollen Tank und eine leere Straße braucht. Und deshalb passierte es auch nicht. Kurz vor dem Abi jedenfalls fuhr Berger einmal übers Wochenende nach Berlin, was an sich schon eine lässige Aktion war, da die Fahrt wegen der Warterei an der Grenze damals locker acht Stunden dauern konnte und den meisten von uns deshalb wie eine Weltreise vorkam. Er wolle ein paar Freunde besuchen, hatte er gesagt. Ding-ding-ding, der Kandidat erhält weitere Tausend Coolheits-Punkte, noch neuntausend bis zur Mickey-Rourke-Schallmauer. Wer Menschen außerhalb unserer Trabantenstadt kannte, der verdiente nicht weniger als Ehrfurcht. Der Berger rollte also Freitagnachmittag los und fuhr am nächsten Montagmorgen gähnend wieder auf dem Schulparkplatz vor. Und, wie war's?
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