Extraleben - Trilogie
schon Jahre her. Die Pollen kratzen in meinen ohnehin schon roten Augen, die Hitze verstärkt das Pochen im Kopf.
»Sie nutzen nur 10 Prozent Ihres geistigen Potenzials«, stand früher doch immer in diesen dubiosen Anzeigen. Wer hatte da eigentlich geworben? Scientology. Egal. Nach den zwei Stunden Schlaf letzte Nacht dürfte ich jetzt auf ein Prozent runter sein. Trotzdem nochmal alles durchgehen. Nick kauert vor dem Rechner, ihm gegenüber sitzt der oder die Unbekannte, außerhalb des Bildes. Der Monitor flackert. In einem schlechten Film würde jetzt der berühmte Computerexperte - Vorbote technischer Lächerlichkeiten - auf den Plan treten, um eine ominöse Taste zu betätigen. Und presto: Grobe Pixelklötzchen würden sich in ein scharfes Bild verwandeln, sodass die Agenten in Nicks Auge erkennen könnten, was auf seinem Monitor gerade abläuft. In echt geht das leider nicht, da sind 800 mal 600 Pixel eben 800 mal 600 Pixel, genug für Duke Nukem, aber zu wenig für digitale Detektivarbeit. Zurück zur Aktion. Nick tippt wie wild, doch seine Hände verschwinden dabei immer wieder hinter dem Rücken des Monitors. Unmöglich, herauszufinden, welche Tasten er gedrückt hat. Wieder eine Sackgasse, also weitersuchen. Er tippt und tippt, bis zu seinem überraschenden Abgang. Er nestelt an seiner Nerd-Uhr rum, der Bildschirm flackert, er steht auf und verlässt den Raum. Rücklauf: Fummeln an der Uhr - das ist es. Warum hat er an seine Uhr gepackt? Nachdenken. Mitte der Neunziger hat Nick sich diese Timex Datalink gekauft - also zu einer Zeit, als sich LCD-Uhren auf dem Allzeit-Höhepunkt ihrer Uncoolheit befanden. Wie alle Nerds hat er sich dieses hässliche Plastikteil nur aus zwei Gründen gekauft: erstens, weil die Nasa die Uhr für den Einsatz im Orbit zugelassen hatte, und zweitens wegen dieser Speicherfunktion. Der stolze Besitzer einer Datalink konnte nämlich Telefonnummern - zum Beispiel die vom seinem Schachclub - direkt vom PC auf die Uhr übertragen, einfach so über die Luft! Dazu musste man die Uhr direkt vor den Bildschirm halten. Über den Monitor flimmerten dann so Balken, die ein optischer Sensor an der Uhr registriert und in Bits umgesetzt hat. Die Datenrate war absolut lächerlich, aber wie immer ging es Nick vor allem darum, zu zeigen, dass es möglich ist. Superstolz führte er dieses Mäusekino damals vor, und am Ende - quasi als Tusch - streckte er mir das Armband entgegen. Spätestens da musste ich ihm recht geben: Nerd-Weltrekord. Ins schwarze Kunstharz-Armband waren nämlich die Worte Listen To The Light eingeprägt, rein binär, als Muster von Nullen und Einsen. Genau an diese Stelle hat Nick auch im Video hingezeigt. Natürlich!
#14 T-6: 20:50
Mein Magen knurrt. Aber bis zum Essen zu warten war nicht drin. Die Emo-Kellnerin ließ mich erst abziehen, nachdem ich ihr - für nichts! - ein deftiges Trinkgeld rübergeschoben hatte. Ärgerlich, aber die Mission erlaubte keinen Aufschub. Den letzten halben Kilometer vom Biergarten zum Dorint bin ich sogar gerannt - nicht gelaufen: gerannt, als ob die Ärsche von der anderen Seite des Schulhofs hinter mir her wären. Hätte ohnehin nicht mehr lange bleiben können, denn kurz vorm Dorint prasselten schon die ersten Regentropfen runter. Jetzt schnell den Rechner an, Videoplayer starten. Eine dicke Schweißperle rollt meinen Unterarm runter. Kurz bevor sie zwischen der Leertaste und dem »M« verschwindet, reiße ich die Hand von der Tastatur weg. Nur nicht auf den letzten Metern noch was riskieren. Play, Pause, noch ein Bild nach vorne springen, jetzt kommt der Moment. Volltreffer. Bei Sekunde vierundvierzig berührt Nick mit der Spitze seines Zeigefingers die Uhr - genau da, wo auf dem Armband dieser ultrapathetische Spruch anfängt. Listen To The Light. Das Licht ist natürlich der Monitor, ich brauche ihm nur noch zuzuhören. Er hat seine Nachricht rausgeschmuggelt - codiert im Flackern des Bildschirms. Ah, mein Beifahrer. Er wusste, dass ich als Erstes die Überwachungskameras abchecken würde, falls er mal nicht nach Hause käme. Er kannte mein ... Fuck, wer ist das schon wieder? Ohne den Blick vom Monitor zu nehmen, reiße ich das Telefon vom Schreibtisch runter.
»Ja?«
Im Hörer ist nur ein Schlucken zu hören. Oh nein, es ist Sabina und sie weint. Defcon One, damit können Jungs gar nicht umgehen. Das muss sofort aufhören.
»Kee?«
Es klingt schon fast wie ein Flüstern.
»Ja.«
Sie schluchzt nochmal leise, dann beschließt sie,
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