Extraleben - Trilogie
durcharbeiten, den ganzen Bit-Salat in ordentliche Buchstaben übersetzen und erst dann den Monitor mit einem triumphierenden Grinsen zu mir umdrehen. Und genauso werde ich das auch machen, quasi ihm zu Ehren. Shit, das klingt schon fast nach Nachruf. Die Leertaste klackert, die Hand mit dem Kuli kritzelt. Der Tag in Ost-Berlin, das war echt eine geile Geisterbahnfahrt. Wir schlugen den Kragen hoch und trippelten von einem Bein aufs andere, während die DDR-Grenzer sich Mühe gaben, die kapitalistischen Siebzehnjährigen, also die ignorantesten kohlenstoffbasierten Lebensformen im Universum, in der Warteschlange möglichst grimmig anzustarren. Zwanzig Mark oder so musste man an der Grenze in diese wertlose Ostkohle umtauschen. Die Münzen fühlten sich so leicht an, als wären sie aus Pappe. Dann blieb genau ein Tag, um das Geld raus zuhauen. Also haben wir uns - wie alle West-Schüler - in einer Bäckerei am Alex kiloweise Baumkuchen gekauft und in der Eiseskälte unter dem Fernsehturm in uns reingestopft. War die einzige Sache, die es im Osten echt billiger gab. Insofern hatte der Arbeiter-und Bauernstaat zumindest für Nick was Paradiesisches: Wenn es nach ihm ginge, würde er ja den ganzen Tag nur von solchem Kuchenzeugs leben. Es geht quälend langsam voran. Videobild für Videobild zuckelt vorbei, abgehackt wie die Bewegungen der Tänzer im Licht der Strobos. Einige Vollidioten aus unserer Klasse sind ja damals echt ins Big Eden gegangen, in diese schrille Touristendisco auf dem Ku'damm. Für uns musste es natürlich 'ne Nummer cooler sein: Wir haben eine Stunde vorm Dschungel in der Nürnberger Straße angestanden und sind schließlich am Türsteher gescheitert - was Nick im Nachhinein zu einer besonders denkwürdigen Aktion umgedeutet hat. Sein Argument: »Zu der Zeit hat Benno Führmann an der Tür gearbeitet!«
Wir sind also - vermutlich - von einem zukünftigen B-Promi zurück in die Jugendherberge geschickt worden. Purer Rock 'n' Roll. Ich bin schon fast durch das Video durch, nur noch fünf Sekunden, noch vier, noch drei. Nick steht auf, das Licht geht aus. Fertig. Ich schaue auf die Zahlenkolonnen, die den Notizzettel füllen. Immer acht Bit habe ich hintereinandergeschrieben, also ein Byte. Danach kommt ein Zwischenraum. Es sind insgesamt fünfzehn Blöcke, Nicks geheime Botschaft besteht also aus fünfzehn Buchstaben. Meine Hand zittert, während ich die Nullen und Einsen in die ASCII-Übersetzung eingebe. Das war schon eine verdammt geile Idee, Nickmeister, verdammt geil. Den Trick hätten die kleinen Skript-Pupsis von heute nicht hingekriegt, dafür muss man nämlich wissen, was in der Maschine so abgeht, und nicht nur Icons hin-und herschieben. Oh Mann, ich klinge schon wie er. Es ist so weit. Die Bits stehen aufgereiht wie Soldaten in der Maske des ASCII-Übersetzungsprogramms und warten darauf, dass ich Eingabe drücke. Ich schließe die Augen. Enter. Als ich sie wieder öffne, steht auf dem Bildschirm:
a?S^s^», ??2€?,Z^ , ??
Ohhh-kayy. Wo liegt der Fehler? Ach, natürlich, ich dachte, dass Nicks Botschaft beim ersten Bildschirmflackern anfängt, aber vielleicht gehörte auch schon die Dunkelheit davor dazu. Also einfach noch eine Null vor die Zahlenschlange setzen - Bitshift nach rechts - und das Ganze nochmal in Buchstaben umwandeln lassen. Enter. Weiß auf Schwarz, und diesmal klar leserlich, spuckt das Übersetzungsprogramm die Worte aus.
USEMBASSYFRAGACS
Sie haben ihn also wirklich nicht weit weggebracht, er hat die ganze Zeit quasi um die Ecke gesessen.
#15 T-6: 15:49
Der Auftrag ist klar: Colonel Trautman will, dass ich reingehe und den letzten Mann raushole - den Kameraden, der noch missing in action ist. Okay, reingehen stimmt vielleicht nicht ganz, und rausholen eigentlich noch weniger. Nick braucht eher so was wie einen Fluchthelfer. Seine Nachricht jedenfalls ist eindeutig. USEMBASSY verrät, wo er festsitzt, nämlich im Gebäude der ehemaligen amerikanischen Botschaft, der U.S. Embassy. Und FRAGACS bedeutet: Ich soll das ACS, das Access Control System, die elektronische Zugangskontrolle, fraggen - also abknallen -, damit er da wieder rauskommt. Das zumindest könnte es bedeuten, unter Umständen. Immerhin habe ich eine vage Idee davon, wie ich den Beifahrer befreien könnte. Ironischerweise hat uns nämlich die Datacorp selbst beigebracht, wie man antiquierte Sicherheitssysteme überwindet. Alle wichtigen Modelle und möglichen Exploits standen in einer dieser Anleitungen,
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