Extraleben - Trilogie
Dann rast sein Blick einmal kurz zum Sperrmüll-Nachttisch, wo das Tape liegt, und wieder zurück auf den Boden. Die Kassette hat er seit der Flucht aus der Botschaft keine Sekunde aus dem Auge gelassen. Seine zweite Dose ist halb leer und die Zeit ist reif, das Schweigen zu brechen.
»Komm schon: Wie ist die Sache gelaufen?«, erkundige ich mich möglichst beiläufig. Autsch, das war haarscharf am Frauenklassiker »Willst du reden?« vorbei. Die Altersweichheit greift um sich. Ohne seine Dose aus der Hand zu nehmen, reibt sich Nick mit dem kleinen Finger das ohnehin schon rote Auge.
»Du weißt doch, wie das läuft ...«
»Nein, weiß ich nicht«, unterbreche ich ihn. Er macht mit den Händen eine entschuldigende Geste.
»Na, die Company steht doch eher so auf die softe Straftat.«
»Heißt?«
»Das Übliche: Ein Typ steht mit 'nem schnellen Wagen vor der Tür, erzählt, dass man total dringend gebraucht werde und sofort mitkommen solle. Ach ja, und dass du dabei wärst, hat er auch behauptet.«
Beim »Du« zeigt er zu mir rüber.
»War ich nicht!«
»Schon klar.«
Nick kippt den Rest des Astra runter und guckt sich nach einem Platz um, wo er die Dose abstellen kann. Zunächst wandert sein Blick zum Nachttisch, wo schon das Tape liegt. Er zögert kurz. Nein, da könnte sie umfallen - zum Beispiel im Fall eines starken Erdbebens - und unseren Schatz benetzen. Also wandert seine Hand zurück und er platziert die Dose auf der Überdecke seines Betts, wo sie natürlich sofort umkippt und ein paar Tropfen ausspuckt. Egal, Hauptsache, dem Band ist nichts passiert. Nach und nach rückt er mit der ganzen Story raus. Ein Datacorp-Fahrer war tatsächlich mitten in der Nacht vorm Büro aufgetaucht, um ihn einzusammeln. John selbst habe den Auftrag autorisiert, hat das Schwein eiskalt gelogen. Nachdem sie ihn in die Botschaft gekarrt hatten, wurde die Sache wohl schnell ungemütlich. Erst haben sie Nicks Telefon und seine persönlichen Sachen einkassiert, danach wurde er mit einem indischen Kollegen zusammengepfercht, der gerade dabei war, das Tape durch eine x-beliebige Bandmaschine zu jagen.
»Das konnte ja nichts werden«, kommentiert Nick, mit einer Spur seiner alten Hochnäsigkeit. Er verachtet wieder andere Menschen - ein gutes Zeichen. Nachdem der Inder dem Tape nichts entlocken konnte, übergaben sie Nick die Sache, wobei sie ihn natürlich keine Sekunde aus den Augen ließen. Deshalb sah sein Blick auf dem Überwachungsvideo so angestrengt aus; der andere Typ von der Company saß ihm die ganze Zeit gegenüber. Viele Worte wurden wohl nicht verloren. Ungefähr eine Minute nimmt sich Nick für die Geschichte von seiner Gefangenschaft. Dabei versucht er, alles so klingen zu lassen, als sei gar nichts Schlimmes passiert.
»Da hat keiner mit 'ner Glock rumgefuchtelt und >Entführung!< gebrüllt oder so«, sagt er im gekünstelten Plauderton. Anscheinend ist es ihm unangenehm, von der Sache zu erzählen, jedenfalls steigt er - wie immer, wenn er angespannt ist - in eine Beschreibung von technischen Petitessen ein. Das ist sein Valium, und weiß Gott, ich gönne ihm seine Dosis.
»Erstens: Der Read-out von der Bandmaschine war völlig korrupt. Zweitens: Mit diesem 86er, vor den sie mich gesetzt haben, hätte ich die Daten nicht in hundert Jahren entschlüsseln können.«
Er rollt mit den Augen wie ein kleines Mädchen, das seinen Freundinnen auf dem Schulhof erklärt, welcher Popstar in dieser Nanosekunde überhaupt nicht mehr angesagt ist.
»Es war völlig klar, dass die ganze Aktion zu nichts führen würde.«
Verschmitztes Lächeln.
»Und dann habe ich die Überwachungskamera gesehen ...«
Ich grinse zurück und proste ihm mit meinem Astra zu. Da seine Dose ja schon leer ist, nickt er nur wohlwollend. Hättest du wohl nicht gedacht, dass der platte Herr Kee die Sache mit dem ASCII-Code rafft, denke ich. Hätte nicht gedacht, dass er die Sache mit dem ASCII-Code rafft -aber das darf ich mir natürlich unter keinen Umständen anmerken lassen, denkt der Beifahrer. Darauf, dass er mich für das Entschlüsseln seiner Videobotschaft oder meinen Kartenschloss-Hack lobt, werde ich wohl noch lange warten müssen, vermutlich ewig. Jetzt! Die Schnake hat es tatsächlich bis zur Decke geschafft. Als ob sie es gar nicht abwarten könnte zu verbrennen, zuckt sie in immer engeren Kreisen um die Birne herum. Draußen hallen Männerschritte durchs Treppenhaus. Die Herren lachen laut, machen Witze in einer fremden Sprache.
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