Extraleben - Trilogie
entführen, um so von uns das Tape zu kriegen. Oh Gott, Entführung - allein das Wort! Lass alles nur eine von Nicks Wahnvorstellungen sein. Er muss echt durch die Hölle gehen. Als Vater sieht man die Dinge ja angeblich nicht mehr so locker, den ganzen menschlichen Kram, Gewalt, Krieg und so. Nicht mehr so wie mit dreizehn, als man jeden Bösen, den Arnie bei »Phantomkommando« wegputzte, bejubelt hat wie einen neuen Highscore bei Beach Head. Früher, da konnte es uns ja gar nicht grausam genug sein. Da hätten wir uns am liebsten schon zum Frühstück »Hellraiser« reingezogen - am besten die Szene, wo der Typ mit Angelhaken zerrissen wird. Diese unbeschwerte Freude an der Gewalt ist uns in den letzten Jahren ein bisschen abhanden gekommen. Mittlerweile zocken wir keine Games mehr, bei denen man Zombies, die am Boden liegen, noch das Hirn rauspusten muss.
»Fehlt einfach der Wohlfühl-Faktor«, meinte Nick letztens, als wir mal wieder so ein Game angezockt haben. Und irgendwie stimmte es. Schrecklich, dass jeder im Alter zum Sozialkundelehrer wird. Ich schaue zu ihm rüber.
»Willste nicht mal bei Sabina anrufen?«
Seine Mundwinkel zucken kurz nach oben, dann kämpft er sich die Kontrolle zurück und drückt ein beiläufiges „Okay« raus. Könnte allerdings schwierig werden, das mit dem Telefonieren, schließlich sind wir gerade erst an einem blauen Warnschild vorbeigedonnert, auf dem NO SERVICES FOR 60 MILES stand eine Stunde lang keine Tanke. Also rutschen wir simultan in unseren Sitzen ein Stück nach unten und verfallen in die alte, auf Tausenden von Meilen perfektionierte Duldungsstarre. Doch sie fühlt sich anders an als früher, wie fast alles auf dieser Dienstreise. Vielleicht sind es die offenen Fenster. Bisher glitten wir immer in unserem klimatisierten Kokon durchs Land, abgeschottet von der Natur und allem, was auch nur entfernt einheimisch erschien. Jetzt dagegen garen wir wie zwei Böse in einem Robert-Rodriquez-Streifen vor uns hin, während der brennende Asphaltwind von draußen unsere Haare zerzaust und die Haut auf der Stirn zwingt, eine Schicht glänzendes Fett anzusetzen. Auf einmal müssen wir spüren, wie dick und heiß die Luft in einer Talsohle steht und wie frisch sie über eine Hügelkuppe bläst. Wir müssen die Rußfahnen der Trucks beim Überholen inhalieren, das Donnergrollen der Diesel ertragen. Zum ersten Mal scheinen wir richtig zu reisen, nicht nur zu beamen. Nick fängt an, das Münzgeld aus seiner Hosentasche rauszupopeln. Ganz ruhig, Alter, im nächsten Dorf gibt's bestimmt 'ne Tanke, die haben oft ein Telefon. Komisch, dass er bereit ist, die Funkstille zu brechen. Andererseits: Es ist ja nur ein Anruf, Nick muss sich halt kurzfassen, falls sie eine Fangschaltung gelegt haben. Halt: Das ist Fernsehwissen aus der Analogzeit, vielleicht gilt das gar nicht mehr und die Datacorp kann schon ab Sekunde eins des Telefonats rausfinden, wo wir sind? Na, es wird schon gutgehen. Bis zum Jahr 2000 stand die einsamste Telefonzelle mitten in der Mojave-Wüste in Kalifornien, zwölf Kilometer vom nächsten Kaff entfernt. Dann beschloss irgendein Freak, da jeden Tag anzurufen, um zu sehen, ob jemand rangeht. Und tatsächlich nahm mal eine Frau ab! Innerhalb weniger Monate verliebte sich das junge Netz in die Story, Nerds pilgerten zur Zelle und plötzlich war sie gar nicht mehr so einsam. Irgendwann wurde die Sache der Telefongesellschaft zu doof und sie baute das Häuschen in einer Nacht-und Nebelaktion einfach ab. Wie jeder gute Held ist auch die Telefonzelle erst durch diesen frühen Tod richtig legendär geworden. Jede Wette, dass Nick die Nummer noch im Kopf hat. Egal. Jedenfalls könnte die Zelle, vor der wir gerade stehen, locker das Erbe der Mojave Phone Booth antreten. Einsam genug liegt sie zumindest. Das glänzende Häuschen steht mutterseelenallein auf einem kleinen Schotterplatz, den irgendjemand neben dem Highway aufgeschüttet hat. Bloß, warum? In alle Himmelsrichtungen gibt es nur abgemähte, beigebraune Felder. Keine Farm weit und breit in Sicht, keine Tanke, nicht mal Kühe oder so. Nichts. Nur der Glaskasten und der Wind, der leise um seine Kanten zischelt. Sie ist natürlich leer - wie die gefühlten fünfundsiebzig Zellen, die wir vorher abchecken mussten. Ausgeweidet, kein Anschluss mehr unter dieser Nummer. Aus der Rückwand ragt nur noch ein einziges schwarzes Kabel raus, das jemand am Ende notdürftig mit Isolierband zugeklebt hat. Darunter hängt das
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