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Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)

Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)

Titel: Extrem: Die Macht des Willens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norman Bücher
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brutaler erscheinen. Vor drei Stunden, um punkt Mitternacht, erfolgte der Startschuss zu diesem Rennen. Und jetzt stehe ich hier und schnappe nach Luft wie ein Gaul bei einem Galopprennen. Ich gehe Schritt für Schritt, ganz langsam, den Berg hoch. An Laufen ist nicht zu denken. Mein Sichtfeld ist auf den schmalen Schein meiner Stirnlampe begrenzt. Vor und hinter mir sind unzählige Läufer; über 2.000 nehmen an diesem extremen Cross-Lauf teil. In Frankreich erfreut sich das Trail-Running einer ungemein großen Beliebtheit. Je höher wir kommen, umso lichter wird die Vegetation. Dann stehe ich auf dem Gipfel. Was für eine eindrucksvolle Kulisse! Ich bleibe für einen kurzen Augenblick stehen, schaue mich um und erfreue mich an dieser beeindruckenden Landschaft. Die Morgensonne blinzelt mir ins Gesicht und lässt die weiten Sandebenen und die wilden Gesteinsformationen in einem goldenen Licht erstrahlen. Vor mir liegt der gewaltige Vulkan Piton de la Fournaise, den wir im Laufschritt passieren. Dieser zählt zu den aktivsten der Welt. Im Schnitt bricht er alle achtzehn Monate aus. Während andere Vulkane auf der Insel nicht mehr aktiv sind, hat es der Piton de la Fournaise im 20. Jahrhundert auf 125 Ausbrüche gebracht. Die Umgebung hier oben präsentiert sich fast ohne Vegetation als wahre Mondlandschaft. Vorbei an scharfkantigen Lavaplatten und durch knirschenden Lavasand passiere ich die Plaine des Sables, eine riesige Sandwüste. Der Boden ist so porös, dass Regenwasser sofort versickert und erst weit entfernt im Canyon des Riviere de l’Est wieder austritt.
    Trotz der gewaltigen Natureindrücke habe ich ständig meine Uhr im Auge, denn bei diesem Rennen gibt es ein Zeitlimit von 63 Stunden. Und auf der Strecke kommen in regelmäßigen Abständen Checkpoints, bei denen peinlichst genau die Zeit der Läufer kontrolliert wird. Meine Uhr zeigt 7 Stunden 41 Minuten an. Das bedeutet: fast zwei Stunden Puffer auf das Zeitlimit. Was ist das denn da vorne? Warum halten die Läufer an? Vor mir hat sich ein „Stau“ gebildet. Nach einigen Minuten ungeduldigen Wartens erkenne ich auch, warum. Es geht senkrecht den Berg hinunter! Vor mir führt ein schmaler, exponierter Pfad über Steigleitern in die Tiefe. Als ich endlich an der Reihe bin, setze ich mich zunächst auf den Boden, um dann ganz langsam Sprosse für Sprosse die Leiter hinunterzusteigen. Du musst bei diesem Rennen definitiv schwindelfrei sein. Über spitze, rutschige Felsen bewege ich mich weiter Schritt für Schritt den Berg hinunter. Mir ist spätestens in diesem Moment klar, warum der Veranstalter explizit den Einsatz von Trekkingstöcken verboten hat. Man benötigt schlichtweg seine Hände! Ich stütze mich mit beiden Händen an Büschen und Ästen ab, um sicher und ohne Verletzung diese sehr steile Bergabpassage zu bewältigen. Vereinzelt läufst du über Steine, die nass und glitschig sind und damit eine tückische Verletzungsgefahr darstellen. Ruckzuck knickst du mit deinem Fuß um und landest im Sanitätszelt. Deshalb ist jeder einzelne Schritt ungemein wichtig und bestimmt über deine Gesundheit. Mach einen falschen und das Rennen kann vorbei sein. Du musst bei jedem Schritt genau wissen, wo du deinen Fuß als Nächstes hinsetzt. Einhundert Prozent Aufmerksamkeit sind hier angesagt. „Konzentriere dich!“, sage ich mir immer wieder. Konzentration ist eine absolute Voraussetzung zum erfolgreichen Abschneiden beim Grand Raid.
    Nach siebzig gelaufenen Kilometern ist distanzmäßig fast Halbzeit des Rennens. Ich erreiche die Ortschaft Cilaos, eine Insel auf der Insel in 1.200 Meter Höhe. Die ersten Gäste mussten noch zu Fuß nach Cilaos laufen, denn erst seit 1932 existiert eine Straße in das unwegsame Gelände hinein. Für die 35 Kilometer lange, abenteuerliche Fahrt nach Cilaos, durch enge Schluchten, einspurige Tunnel und insgesamt 420 Kurven, benötigt man über eine Stunde − mit dem Auto. Ich begebe mich in die beheizte Halle. Draußen regnet es mittlerweile in Strömen. Mein Magen knurrt ununterbrochen und sehnt sich nach einem Energieschub. Angeblich entspricht der Energieverbrauch bei der „Diagonale der Verrückten“ dem von acht Marathonläufen zusammen. Deshalb esse ich gleich zwei große Teller Reis mit Hühnerfleisch. „Mhmm, das tut gut!“ Mit jedem Bissen merke ich, wie mein Energieniveau wieder steigt. „Du musst weiter“, sage ich mir. Doch draußen ist es bereits stockdunkel geworden und es regnet weiterhin am

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