Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)

Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)

Titel: Extrem: Die Macht des Willens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norman Bücher
Vom Netzwerk:
laufenden Band. Mein innerer Schweinehund wird immer größer, doch meine Willenskraft behält schließlich doch die Oberhand und ich ziehe weiter. In diesem Moment kommt mir der Rat meines Lauffreundes Eberhard in den Sinn, der schon einmal zuvor dieses Rennen erfolgreich beendet hat: „Bis Cilaos ist zeitmäßig erst ein Drittel des Rennes vorbei. Für die zweite Hälfte benötigst du gut zwei Drittel an Zeit.“ Was wird da wohl noch kommen? Mit diesem Gedanken im Kopf nehme ich die nächsten steilen Kurven bergab in Angriff. Ich bin ganz alleine, außer dem Lichtstrahl meiner Stirnlampe ist es stockdunkel um mich herum. Eine beängstigende Stille umgibt mich – keine Stimmen, keine Musik, nur das sanfte Rauschen des Windes nehme ich wahr. Bin ich überhaupt noch auf dem richtigen Weg?
    Mittlerweile bin ich schon seit über dreißig Stunden nonstop unterwegs und habe den Cirque de Mafate, einen der drei großen Bergkessel der Insel, betreten. Keine einzige Straße führt hier hinein. Die wenigen Einwohner des Cirque werden aus der Luft mit dem Hubschrauber versorgt. Ein bizarres System aus Schluchten, Plateaus und Steilwänden durchzieht diese wilde Landschaft. Die Mafate ist von tiefen Gräben zerfurcht und im Zentrum weitestgehend unzugänglich. An Stahlseilen abgestützt, die fest in der Felswand montiert sind, gehe ich langsam den Steilhang hinunter. Die Pfade sind vom Regen völlig aufgeweicht. Wie auf Schmierseife bewege ich mich vorwärts. Das Fortbewegen hat jetzt nichts mehr mit Laufen zu tun. Schlittern und Rutschen sind angesagt. Alle paar Meter finde ich mich auf dem schlammigen Boden wieder. Für zwei Kilometer benötige ich sage und schreibe eine Stunde! Auf einmal werde ich hundemüde. Meine Augen fallen mir fast während des Laufens zu. Mein ganzer Körper sehnt sich nach einem Bett, doch meine Willenskraft treibt mich voran. „Beim nächsten Checkpoint bekommst du deine wohlverdiente Schlafpause“, motiviere ich mich und marschiere weiter. Doch ich muss höllisch aufpassen, denn ein falscher Tritt kann hier fatale Folgen haben. Vor ein paar Jahren sind beim Grand Raid sogar zwei Läufer tödlich verunglückt, weil sie vor lauter Müdigkeit einen Abhang hinuntergestürzt sind. Deshalb: Augen auf und Fokus auf den Boden! Dank meines Willens erreiche ich wenig später den nächsten Verpflegungspunkt in Deux Bras. Hier belohne ich mich mit dem versprochenen Kurzschlaf: eine Stunde im Militärzelt auf einem Feldbett mit Decke. Was für ein Luxus! Wenn du über 35 Stunden durch extrem anspruchsvolles Gelände bei Tag und Nacht ohne Schlafpausen unterwegs bist, kommt dir solch eine Unterkunft wie ein Zimmer im Sieben-Sterne-Hotel in Dubai vor. Ich schlafe sofort ein. Wie abgesprochen, weckt mich exakt eine Stunde später einer der Soldaten, die für die Betreuung der Läufer und des Lagers verantwortlich sind. Im ersten Moment fühle ich mich wie in einem schlechten Kriegsfilm. Szenen vom Film „Der Soldat James Ryan“ flimmern vor meinem inneren Auge. Ich sehe verletzte Soldaten und zerbombte Militärcamps. Wo bin ich hier? Erst nach und nach wird mir bewusst, dass ich mich beim Grand Raid auf La Réunion befinde. Ich will weiter. Genauer gesagt, mein Kopf will weiter. Meine Beinmuskeln sind hart wie Stein und würden sich am liebsten hier am Checkpoint weiter erholen. Es kostet mich enorme Überwindung, bis ich schließlich von meiner Schlafposition wieder auf beiden Füßen stehe. Die zurückgelegten 121 Kilometer sind nicht spurlos an mir vorüber gegangen.
    Fast geschafft! Nur noch fünf Kilometer trennen mich jetzt noch vom Ziel. Bei manch anderen Läufen bedeuten diese letzten Kilometer ein lockeres Auslaufen. Nicht jedoch beim Grand Raid. Es geht noch einmal 600 Meter sehr steil bergab. Bilder von meinem Zieleinlauf gehen mir durch den Kopf. Ich reiße meine Arme in die Luft und freue mich wie ein kleines Kind. Dieser Gedanke, bei strahlend blauem Himmel über die Ziellinie zu laufen, löst in mir einen wahren Endorphinschub aus. Meine Emotionen gehen mit mir durch und ich bin voller Euphorie. Doch mein Verstand meldet sich sofort und signalisiert mir: „Du bist noch nicht im Ziel. Bis jetzt hast du noch gar nichts erreicht. Bleib weiter konzentriert!“Knapp neunzig Minuten später laufe im Stadion de la Redoute in Saint-Denis ein. Meine Uhr stoppe ich bei 56 Stunden und 42 Minuten. Ich bin noch nie so lange am Stück bei einem Rennen unterwegs gewesen. Es ist schwer in Worte zu

Weitere Kostenlose Bücher