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Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)

Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)

Titel: Extrem: Die Macht des Willens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norman Bücher
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jüngere Läufer mussten aufgeben, doch er beendete dieses Rennen erfolgreich. Vor dem Lauf am Mont Blanc kamen wir schließlich ins Gespräch. Er stellte sich als Bernhard vor. Wir verstanden uns sofort und redeten gleich über Gott und die Welt. Und irgendwann fragte ich ihn: „Wie schaffst du es in deinem Alter noch 100 Meilen zu laufen?“ Und er sagte mir: „Ich laufe nicht 100 Meilen, sondern eine Meile − 100 Mal!“ Bernhard konzentrierte sich jeweils auf eine Meile und konnte so die ganze Strecke laufen. Bei einer Fokussierung auf die gesamte Strecke hätte ihn allein schon der Gedanke daran völlig abgelenkt und ermüdet. Begeistert von dieser Erkenntnis fing ich an, genau dieses Prinzip auf mich zu übertragen. Und von da an gingen meine Gedanken bei den Läufen immer nur bis zum nächsten Verpflegungspunkt oder beschränkten sich auf den jeweiligen Kilometer. Ich denke heute teilweise nur noch an den jeweils nächsten Schritt. „Jeder gelaufene Meter bringt dich deinem großen Ziel ein Stück näher“, habe ich dann im Hinterkopf. Die gesamte Strecke, die gesamten 166 Kilometer wie am Mont Blanc, sind bei mir völlig ausgeblendet. Damit erhalte ich eine ganz andere Einstellung gegenüber Distanzen. 166 Kilometer kann ich mir nur schwer vorstellen. Aber acht Kilometer oder auch zwölf Kilometer sind noch überschaubar. Und diese Denkweise in kleinen Abschnitten behalte ich auch während meiner Läufe.
    Diese Art der Konzentration hat mir besonders auch bei einem anderen Wettkampf geholfen, den ich im Frühjahr 2008 gelaufen bin: den Sächsischen Mount Everest Treppenmarathon, den größten Treppenlauf der Welt. Jetzt fragt sich der eine oder andere Leser an dieser Stelle vielleicht: Was ist das denn bitte? In Sachsen den Mount Everest laufen? Ist der Bücher jetzt völlig durch den Wind? Beim Sächsischen Mount Everest Treppenmarathon läuft man einen Doppelmarathon, also 84,4 Kilometer, aber nicht in der Ebene. Mitten in Radebeul, einer Stadt nordwestlich von Dresden, befindet sich eine Treppe. Und was für eine: 397 Stufen und 88 Höhenmeter geht es die berühmte Spitzhaustreppe steil hinauf bis zum Radebeuler Bismarckturm. Diese Treppe muss man bei diesem Wettkampf insgesamt einhundert Mal hinauf- und wieder hinunterlaufen. Dann kommt man auf exakt 8.848 Höhenmeter − das ist so viel wie vom Meeresspiegel bis zum Gipfel des Mount Everest. Das Zeitlimit beträgt dabei nur 24 Stunden. Insgesamt hat man fast 40.000 Stufen bergauf- und genauso viel wieder bergabzulaufen. Zum Vergleich: Das Empire State Building in New York hat „nur“ 1.860 Stufen. Man müsste also fast 21 Mal das Empire State Building hoch- und hinunterlaufen, um auf die gleiche Anzahl Treppen wie in Radebeul zu kommen. Bei diesem Rennen kommt es im wahrsten Sinne des Wortes wirklich immer nur auf den nächsten Schritt, die nächste Stufe an. Zu Beginn lege ich die Runden noch relativ locker zurück. Die Zeit vergeht wie im Flug. Nach fünf Stunden habe ich schon die ersten 25 Runden und damit den ersten Halbmarathon hinter mir. Aber nach siebzig Runden, nach über fünfzehn Stunden, ist die mentale Stärke sehr wichtig für den weiteren Rennverlauf. Hinzu kommt das monotone und immer wiederkehrende Auf- und Absteigen, das dich auf Dauer einfach ermüdet. Einhundert Mal denselben Parcours, dieselbe Treppe zu überwinden, ist zu einem überwiegenden Teil Kopfsache. Ich blende alles um mich herum aus und konzentriere mich wirklich nur auf die gegenwärtige Runde. Mein Fokus ist immer nur auf die jeweils nächste Stufe gerichtet. Jede einzelne Stufe zählt. Runde für Runde und Stunde um Stunde vergehen. Die Nacht und der aufkommende Regen erschweren die Bedingungen. Die Treppenstufen sind nass und rutschig. Einhundert Prozent Aufmerksamkeit und höchste Konzentration sind gefordert, um einen Sturz zu vermeiden. Von den reizvollen Weinbergen um mich herum habe ich zu diesem Zeitpunkt des Rennens überhaupt nichts mehr mitbekommen. Mein Blick ist stets auf den grauen, nassen Asphalt der Treppe gerichtet. Nach über 21 Stunden erreiche ich schließlich das Ziel. Gerade wenn ein Projekt noch so lange und noch so monoton ist, kommt es auf jede einzelne Stufe und jeden einzelnen Schritt an. Das hat mir dieser Lauf eindrucksvoll und sehr bildhaft gezeigt.
    Letztendlich geht es, auch im Berufs- und Alltagsleben, genau darum: Wir müssen immer nur auf den nächsten Schritt, die nächste Aufgabe, das nächste Telefonat, den

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