Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)

mir. Ich fühlte die unglaubliche Stimmung und das Kribbeln am Start. Ich hörte die Menschenmassen in den einzelnen Dörfern, die ich bei diesem Rennen passieren werde. Ich sah, hörte und fühlte noch einmal den Moment, als ich im vergangenen Jahr unter tosendem Applaus das Ziel in Chamonix erreichte. Den Auslöser für diese emotionalen Zustände bildete diese kleine Karte.
    Diese Läuferkarte war nicht nur meine Identifikation oder ein schönes Souvenir. Sie stellte für mich einen sogenannten Anker dar. Damit meine ich natürlich nicht die mitunter sehr imposanten Schiffsanker. Das „Ankern“ verstehe ich im Zusammenhang mit mentalem Training. Ein Anker kann ein Wort, ein Satz, ein Gegenstand, eine Melodie, eine Geste oder eine bestimmte Bewegung sein. Anker haben eine sehr starke Wirkung, weil sie sofort intensive Zustände auslösen können. Sie können einer Erfahrung Dauer verleihen und kommen tagtäglich häufig zum Einsatz. Vielen Menschen ist dies gar nicht bewusst. Kennen Sie das auch? Wenn im Radio ein bestimmtes Lied erklingt, denken Sie automatisch an eine gewisse Situation zurück? An Ihre erste Liebe? An ein Konzert? An ein erfolgreiches Fußballspiel? Das Lied hat in all den Fällen die Funktion eines Ankers. Ein wissenschaftlicher Beleg dafür sind die bekannten Experimente des russischen Forschers Iwan Pawlow mit seinen Hunden. Pawlow fütterte seine Hunde und beobachtete dabei ihren Speichelfluss. Wenn er dabei eine Glocke in engem zeitlichen Abstand zur Fütterung erklingen ließ, reagierten die Hunde allein auf den Glockenton mit Speichelfluss. Oder denken Sie an die berühmte „Becker Faust“ von Boris Becker. Diese Geste war ebenfalls solch ein Anker für unseren ehemaligen Tennishelden. Jedes Mal, wenn er seine Faust ballte, ankerte er eine Erfolgssituation wie zum Beispiel einen optimal ausgeführten Schlag aus seinem reichen Erfahrungsschatz und „katapultierte“ sich damit in einen positiven Zustand.
    Selbstgespräche und Anker sind zwei mächtige Instrumente, mit denen wir unsere Gedanken lenken und auf Erfolg programmieren können. Im Extremsport wie im „normalen“ Berufs- und Alltagsleben.

Der Glaube versetzt Berge
    „Der Glaube versetzt Berge“, lautet ein bekanntes Bibelzitat. Woran glauben Sie? Mir geht es dabei nicht um Ihre religiöse Einstellung, sondern darum, was Sie in Bezug auf Ihre Person und Ihre Eigenschaften glauben. Sie werden nur ganz selten etwas erreichen, woran Sie nicht wirklich glauben. Der unerschütterliche Glaube ist eine unabdingbare Voraussetzung für persönlichen Erfolg. Solange wir fest an etwas glauben, übernimmt unser Gehirn die Funktion eines Autopiloten und lässt nur die Informationen zu, die unserem Glaubenssystem entsprechen. Wenn dieses System beispielsweise sagt „Ich glaube an die Wirkung von Medikamenten“, dann wird auch Ihr Gehirn dahingehend programmiert und Sie erleben die Effekte tatsächlich. Auch wenn die Medikamente nicht über die entsprechenden Wirkstoffe verfügen. Dieses Phänomen, als Placebo-Effekt bezeichnet, finde ich beeindruckend. Die Wunderwirkung der Medikamente liegt immer im Glauben der Person begründet, nicht in den Präparaten selbst.
    Nur: Glaube allein reicht nicht aus. Der Glaube an sich und seine Stärken ist eine starke Basis. Ein breites Fundament. Nur damit allein erreichen Sie nicht Ihr Ziel. Sie müssen auch täglich etwas tun. Sie müssen aktiv werden. Wenn ich in der Vorbereitung für einen großen Lauf stecke, dann bin ich zu 100 Prozent davon überzeugt, dass ich ihn auch erfolgreich beenden werde. Ich glaube an mich und meine läuferischen Fähigkeiten. Wenn ich aber nicht ausreichend trainieren würde, körperlich wie mental, dann brächte mich auch der beste Glaube nicht an mein Ziel.
    Unser Glaube stellt eine innere Haltung, eine innere Gewissheit dar, dass das, was man sich wünscht, erreicht werden kann. Glaube ist immer auch in Zusammenhang mit Vertrauen in sich selbst und seine Fähigkeiten zu sehen. Vor allem, wenn man eine große Aufgabe vor sich hat, die man zuvor noch nie bewältigt hat, ist es enorm wichtig, Vertrauen aufzubauen. Als ich zum ersten Mal vom Ultra-Trail Mont Blanc hörte, konnte ich es zunächst gar nicht glauben, dass man solch eine Leistung überhaupt vollbringen kann. Wie kann man denn nur 166 Kilometer und 9.400 Höhenmeter nonstop innerhalb von 46 Stunden laufen? Das war zunächst meine innere Haltung. Mit dieser Einstellung hätte ich nie und nimmer diesen