Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
Start. Ein Rückschritt im wahrsten Sinne des Wortes, zumindest in diesem Moment. Nach fünf gelaufenen Etappen, nach über 250 Kilometern höre ich auf. Tränen kullern mir über die Wangen und ich bin in diesem Moment am Boden zerstört. Dabei wären „nur“ noch knappe 100 Kilometer vor mir gelegen. Doch der Preis, den ich dafür aus gesundheitlicher Sicht gezahlt hätte, wäre für mich zu hoch gewesen. Meine Gesundheit ist mir wichtiger, als mit aller Gewalt einen Lauf zu finishen. Meine Vernunft hat bei einem Rennen zum ersten Mal über meine Willenskraft gesiegt. Ich brauchte einige Zeit, bis ich dies verarbeitet hatte.
Was kann man denn nach solch einem schmerzhaften Erlebnis tun? Ich kann mir eine Flasche Vodka kaufen und mich betäuben. Zugegebenermaßen hatte ich im ersten Moment nach dem Abbruch diesen Gedanken. Natürlich kann ich auch das böse Schienbeinkantensyndrom für meinen Abbruch verantwortlich machen. Oder endgültig auf „Jammer-Modus“ umstellen und über alles, was mit dem Swiss Jura Marathon zusammenhängt, schimpfen: das anspruchsvolle Profil des Rennens, das unbequeme Massenquartier in den Turnhallen oder das bescheidene Wetter. Doch habe ich damit das Problem gelöst? Es ist sicherlich die bequemste Lösung, den Fehler bei anderen zu suchen. Die äußeren Umstände sind schuld an der Misere. Das ist einfach. Leider nehmen viele Menschen diesen Weg und beklagen sich über äußere Faktoren: den Chef, den Partner, die Eltern, den Lehrer, den Schiedsrichter. Sehr beliebt ist auch immer das Wetter. Dabei genügt häufig ein Blick in den Spiegel, um zu erkennen, wer für den Fehler oder die Niederlage verantwortlich ist: man selbst. Das ist ein elementar wichtiger Schritt: die Verantwortung für sein eigenes Handeln, für seine eigenen Fehler und für sein eigenes Leben zu übernehmen. Wer übernimmt denn heute noch Verantwortung? Schon in der Schule ist es der böse Lehrer, der für die schlechten Noten verantwortlich gemacht wird. Das Fußballspiel hat man verloren, weil der Schiedsrichter schlecht gepfiffen hat. Das schlechte Wetter war schuld an der eigenen Leistung und an der Niederlage. Es ist bequemer, die äußeren Umstände für unser eigenes Leben verantwortlich zu machen. Als ich mir früher noch die Sportschau angesehen habe, da spielte einmal gerade der Karlsruher SC gegen den FC Bayern München. Bei diesem Spiel gewann ausnahmsweise der KSC. Nach dem Spiel werden stets einzelne Interviews mit ein paar Spielern gezeigt. Auch Lothar Matthäus stellte sich einem Interview und wurde gefragt, warum sie denn heute so schlecht gespielt hätten. Lothar Matthäus, damals Kapitän beim FC Bayern, rastete völlig aus und beschimpfte den Schiedsrichter auf übelste Weise. Der „Schiri“ wäre alleine schuld an dieser Niederlage. Er sprach von „Beschiss“ und „Betrug“. Dabei wurde sein Hals immer dicker und sein Kopf immer röter.
Nachdem ein paar Tage ins Land gegangen waren seit meinem Abbruch beim Swiss Jura Marathon, konnte ich mit der Situation schon etwas besser umgehen. Ich ging viel spazieren (laufen konnte ich ja noch nicht) und versuchte an andere Dinge zu denken. Bei einem meiner längeren Spaziergänge wurde mir auf einmal bewusst: Nur ich war für den Ausgang dieses Rennens verantwortlich. Nicht das Wetter, nicht die Turnhallen und auch nicht das Schienbeinkantensyndrom. Ich fing an, mich zum ersten Mal offen und ehrlich dieser Situation zu stellen, was mir zu Beginn ehrlich gesagt ein wenig schwer fiel. Ich hatte immer noch im Hinterkopf: „Wenn diese sch… Verletzung nicht gekommen wäre, hätte ich diesen Lauf locker gefinisht.“ Ich musste mich wirklich zwingen, ehrlich zu mir selbst zu sein. „Du bist ganz alleine für diese Situation verantwortlich“, sagte ich mir immer wieder. Dadurch fielen Tonnen von Ballast von mir und ich fühlte mich erleichtert. Der erste Schritt nach dem Abbruch beim Swiss Jura Marathon war also, dass ich zunächst ein wenig Abstand zu den Erlebnissen gewann und ich danach die komplette Verantwortung für den Ausgang dieses Rennens übernahm.
Nachdem ich die Verantwortung übernommen hatte, fragte ich mich immer wieder: An was hat es denn schlussendlich gelegen? Wie kam überhaupt die Verletzung zustande? Was war die Ursache dafür und letztendlich für den Rennabbruch? Ich ging vor meinem geistigen Auge die letzten Tage und Wochen vor dem Swiss Jura Marathon durch. Wie habe ich mich im Einzelnen vorbereitet? Wie sah die
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