Exzession
zu
greifen.
So, jetzt geht’s dahin, dachte das Schiff. Könnte ganz interessant werden…
VI
»Nein.«
»Bitte«, sagte der Awatara.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe es mir
überlegt. Ich will ihn nicht sehen.«
Der Awatara sah Dajeil eindringlich an. »Aber ich habe ihn
den ganzen weiten Weg hierhergebracht!« rief er. »Nur
für dich! Wenn du wüßtest…« Seine Stimme
versiegte. Er zog die Füße auf die Vorderkante des Sitzes
hoch und schlang die Arme um die Beine.
Sie befanden sich in Dajeils Gemächern, in einer weiteren
Version vom Innern des Turms, die in der AKE Trübe Aussichten beherbergt war. Der Awatara war schnurstracks hierhergekommen,
nachdem er Genar-Hofoen im Hauptladeraum zurückgelassen hatte,
wohin das Original des Turms – des Turms, in dem Dajeil Gelian
vierzig Jahre lang gelebt hatte –, gebracht worden war, als das
Schiff seine gesamte äußere Überschußmasse in
Antriebskraft umgewandelt hatte. Er hatte gedacht, sie würde
sich freuen, daß der Turm nicht zerstört zu werden
brauchte und daß Genar-Hofoen endlich dazu überredet
worden war, zu ihr zurückzukehren.
Dajeil betrachtete nach wie vor den Bildschirm. Es war das Replay
einer ihrer Tauchunternehmungen zwischen den dreieckigen,
rochenartigen Wesen in dem flachen Meer, das es jetzt nicht mehr gab,
und zwar aus der Sicht einer Drohne, die sie damals begleitet hatte.
Sie sah zu, wie sie sich zwischen den anmutig wallenden Flügeln
der großen, sanften Geschöpfe bewegte. Mit ihrem dicken
Bauch und ihren ungelenken Bewegungen war sie das einzig unelegante
Ding in dem Bild.
Der Awatara wußte nicht, was er als nächstes sagen
sollte.
Die Sleeper Service beschloß einzugreifen.
»Dajeil?« sagte er leise durch seinen Vertreter. Die Frau
sah sich um, da sie den neuen Ton in Amorphias Stimme erkannte.
»Was?«
»Warum möchtest du ihn jetzt nicht sehen?«
»Ich…« Sie hielt inne. »Es ist so lange
her«, fuhr sie dann fort. »Ich meine… Ich glaube,
während der ersten Jahre wollte ich ihn wiedersehen, um…
um…« Sie senkte den Blick und zupfte an ihren
Fingernägeln. »Ich weiß nicht. Ach, um zu versuchen,
die Dinge in Ordnung zu bringen… herrje, das klingt so
lahm.« Sie schnaufte tief und sah hinauf zu der durchscheinenden
Kuppel. »Ich hatte das Gefühl, daß wir bestimmte
Dinge aussprechen müßten, die wir uns niemals gesagt
haben, und daß wir, wenn wir zusammen wären, auch nur
für eine kurze Zeit,… einiges ins reine bringen
könnten. Einen Schlußstrich ziehen unter all das, was
geschehen ist. Das Ganze bereinigen… irgendwie so. Verstehst
du?« sagte sie und blickte den Awatara mit leuchtenden Augen
an.
Oh, Dajeil, dachte das Schiff. Welche Verwundung spricht
aus deinen Augen! »Ich weiß«, sagte es.
»Aber jetzt hast du das Gefühl, daß zu viel Zeit
vergangen ist?«
Die Frau strich sich mit der Hand über den Bauch. Sie nickte,
den Blick zu Boden gesenkt. »Ja«, sagte sie. »Es ist
alles zu lange her. Ich bin sicher, er hat mich ganz und gar
vergessen.« Sie sah zu dem Awatara auf.
»Und trotzdem ist er hier«, sagte das Schiff.
»Ist er gekommen, um mich zu besuchen?« fragte sie mit
einem verbitterten Klang in der Stimme.
»Nein und ja«, antwortete das Schiff. »Seine
Beweggründe waren andere. Aber er ist deinetwegen
hier.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie.
»Nein; zu viel Zeit…«
Der Awatara faltete sich aus dem Sitz und ging hinüber zu dem
Platz, wo Dajeil saß; er kniete vor ihr nieder und streckte
zögernd eine Hand zu ihrem Bauch aus. Er sah ihr in die Augen
und legte die Handfläche auf Dajeils Bauch. Dajeil fühlte
sich schwindelig. Sie konnte sich nicht erinnern, daß Amorphia
sie jemals berührt hatte, weder als er selbst noch
stellvertretend für die Sleeper Service. Sie legte ihre
Hand auf die des Awatara. Die Hand des Geschöpfes war ruhig,
weich und kühl.
»Und dennoch«, sagte es, »in gewisser Weise ist
überhaupt keine Zeit vergangen.«
Dajeil stieß ein verbittertes Lachen aus. »O
doch«, sagte sie. »Ich war hier und habe nichts anderes
getan, als älter zu werden. Aber er?« fragte sie, und
plötzlich schwang so etwas wie Zorn in ihrer Stimme mit.
»Wie intensiv hat er in den vergangenen vierzig Jahren
gelebt? Wie viele Geliebte hat er gehabt?«
»Ich glaube nicht, daß das von Bedeutung ist,
Dajeil«, erwiderte das Schiff ruhig. »Das Entscheidende
ist, daß er hier ist. Du kannst mit ihm sprechen. Ihr beide
könnt
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