Ezzes
Bronstein zog sie heraus, schloss sodann wieder seine Tür und ging zurück zum Küchentisch. Den Aufmacher, eine Kundmachung des Finanzministeriums, überblättere er ungelesen. Auch die Artikel über den österreichisch-tschechischen Grenzverkehr und über die Jahresversammlung der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst vermochten ihn nicht zum Lesen zu animieren. Dass Bundespräsident Hainisch einen Tag im Burgenland verbracht hatte, stieß ebenso wenig auf sein Interesse wie der Staatsbesuch desitalienischen Staatssekretärs Italo Balbo in Wien. Dass allerdings sein alter Hochschullehrer Adolf Menzel seinen 70. Geburtstag beging, registrierte Bronstein mit einer gewissen sentimentalen Regung. Es war Ewigkeiten her, dass er bei Menzel Prüfungen abgelegt hatte, und damals war ihm der Mann schon wie ein Greis erschienen. Doch Alter war anscheinend relativ. Er selbst hielt sich mit seinen 44 immer noch für einen eher jüngeren Herrn, und trotzdem war er in den Augen der Gindls und Stepaneks wohl schon ein potenzieller Opa. Denn Menzel, so fiel Bronstein auf, als er kurz nachrechnete, musste zur Zeit von Bronsteins Studium in exakt jenem Alter gewesen sein, das nun er, Bronstein, aufwies. Tja, tempus fugit.
Doch Bronstein wollte nicht neuerlich Trübsal blasen. Also verdrängte er diesen unangenehmen Gedanken und blätterte schnell weiter, um endlich den Bericht über die gestrige Gerichtsverhandlung zu finden. Auf Seite 7 wurde er schließlich fündig.
Am Vortag war der Schutzbund-Kommandant Thomas Preschitz einvernommen worden. Bronstein erinnerte sich. Das war jener Rote, von dem es hieß, er habe in der Zeit der ungarischen Räterepublik Exekutionen vornehmen lassen oder gar selbst durchgeführt. Doch als Bronstein den Bericht zu Ende gelesen hatte, war er sich sicher, dass diese Vorwürfe nicht der Wahrheit entsprachen, denn Preschitz agierte viel zu defensiv, gerade so wie seine Parteioberen, und Leute, die sich so verhielten, rafften sich selten zu einer konkreten Tat, zumal zu einer radikalen, auf. Allerdings verteidigte sich Preschitz nicht gerade geschickt, fiel Bronstein auf. Zu erklären, man habe nur deshalb auf Tscharmanns Gasthaus zugehalten, weil man eine Erfrischung zu sich nehmen wollte, klang einfach hanebüchen. Und dieser Satz hatte offenbar auch den vorsitzenden Richter aus der Reserve gelockt. Ausgerechnet dort wollten sie einen Wein trinken, das klingt schon ein wenig nach Provokation,wurde der Richter zitiert. Und dieser Satz blieb umso bedeutungsschwerer im Raum hängen, als Preschitz darauf nichts entgegnete, wenn man dem Bericht in der Zeitung Glauben schenken durfte. Der zweite Schutzbündler, ein Mann namens Wagner, hatte da schon eine wesentlich bessere Figur gemacht, als er sich im Zeugenstand befand. Aber der Mann konnte ja auch Schusswunden vorweisen, die ihm an jenem Jännertag zugefügt worden waren. Nach dieser Einvernahme war der Prozess auf die kommende Woche vertagt worden.
Bronstein trank den letzten Rest Kaffee und zündete sich sodann erneut eine Zigarette an. Er dachte darüber nach, wie er sich verhalten würde, wenn er als Richter über diesen Fall zu urteilen hätte. Eigentlich war die wahre Problematik der ganzen Angelegenheit noch gar nicht berührt worden, fand Bronstein. Die Frage war doch, wer die tödlichen Schüsse abgegeben hatte. Und danach hatte bislang noch gar niemand gefragt, was doch wirklich erstaunlich war. Wäre er Anwalt gewesen, seine erste Frage an die Zeugen hätte gelautet: Wer gab wann welchen Schuss ab? In welche Richtung zielte wer? Wo standen die beiden Opfer zu diesem Zeitpunkt? Das waren die Punkte, die geklärt werden mussten, fand Bronstein. Wieso war etwa dieser Adrian vernommen worden, wenn er keinerlei Angaben machen musste, wie sich das zentrale Geschehen, um welches sich der gesamte Prozess rankte, zugetragen hatte? Sicher, die Anwälte der Verteidigung konnten kein Interesse an detaillierten Aussagen haben, zumal, wenn die Gefahr bestand, dass ihre Mandanten dadurch belastet wurden. Aber dass der Staatsanwalt diese Fragen nicht aufwarf, sprach nicht gerade dafür, dass er seine Hausaufgaben gemacht hatte. Doch wer wusste, was für ein Mann dieser Staatsanwalt war? Vielleicht handelte es sich um ein junges Bürschlein, frisch von der Universität und dementsprechend unerfahren. Oder um einen kurz vor der Pensionierung stehenden Tatterich, dem alten Pokornyähnlich, der sein Leben lang nur Hühnerdiebstähle und
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