F (German Edition)
eine Antwort. Die Spinne ist inzwischen auf der anderen Seite der Tür, wie hat sie es so schnell dorthin geschafft?
«Was?», fragt sie.
«Wie bitte. Du musst ‹wie bitte› sagen, nicht ‹was›.»
«Wie bitte?»
«Was?»
«Was für eine Spinne, Papa?»
Habe ich eben laut gesprochen? Um Himmels willen!
«Du hast gesagt –»
«Nein!»
«Du hast doch –»
«Nichts habe ich gesagt!»
Das war zu laut, ich will meine Tochter nicht erschrecken, und ich darf die Kamera nicht vergessen. Bestürzt streiche ich Marie über den Kopf. Sie lächelt mich an, dann dreht sie sich um und geht, wie Kinder es immer tun, mit springendem, holperndem, springendem Laufschritt davon.
«Beeil dich!», rufe ich ihr nach. «Du bist spät dran, die Schule beginnt gleich!» Ich habe keine Ahnung, wann die Schule beginnt. Aber es wird wohl stimmen.
Was wird sie von mir denken, wenn ich im Gefängnis bin? Auf dem Weg zum Ankleidezimmer im Obergeschoss frage ich mich wieder einmal, warum ich nicht den Mut aufbringe, es abzukürzen. So viele haben es geschafft: Pistole, Tabletten, ein Sprung aus einem hohen Fenster. Warum nicht ich?
Ich bin wohl zu stark dafür. Stark zu sein hat nicht nur Vorteile. Man hält mehr aus, man kann sich in schlimmere Verwicklungen bringen, und es fällt schwerer, aufzugeben. Die Blassen, die Leeren und die Kraftlosen, die nichts zu verlieren haben, wenn sie sich selbst verlieren, die können sich einfach irgendwo aufhängen. Aber in mir ist etwas, das es nicht zulässt.
Im Ankleidezimmer bin ich gerne, hier gibt es selten Probleme. Nebeneinander aufgereiht hängen siebzehn schwarze Maßanzüge, in den Fächern stapeln sich neununddreißig weiße Hemden, und an der Krawattenhalterung hängen fünfundzwanzig fleckenlose Krawatten in ein und demselben Rot. Manchmal schenken Leute mir andere Krawatten, meist mit raffinierten Mustern, die werfe ich weg. Nur eine schwarze habe ich noch, für Begräbnisse. Auf dem Boden stehen einundzwanzig Paar gut polierte Schuhe.
Aber an den Wochenenden ist es schwierig. An freien Tagen kann man keinen Anzug tragen, man kann auch schlecht immerzu das gleiche karierte Hemd anziehen. Es wäre sinnvoll und vernünftig, daher würde man jemanden, der es tut, für sonderbar halten. Und so habe ich auch einen Schrank für Wochenenden, Freizeit, Ferien. Darin befinden sich bunte Hemden aller Art: einfarbige, karierte, gestreifte und sogar eines mit Punkten. Laura mag es nicht, aber ich behaupte, es sei mein Lieblingshemd. Menschen sollten ein Lieblingshemd haben, man erwartet das und findet es sympathisch. Es gibt in dem Schrank auch Jeans, Cordhosen, Ledergürtel, Jacken aller Art, Sportschuhe, Wanderschuhe und Angelschuhe, obwohl ich noch nie angeln war und auch nicht die Absicht habe, das je zu ändern.
Zum Glück ist heute ein Wochentag, darum bin ich nach fünf Minuten fertig. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, rote Krawatte. Alles fühlt sich besser an, wenn man einen Anzug trägt. Ich nicke in den Wandspiegel, mein Spiegelbild nickt ohne Verzögerung zurück. Die Welt funktioniert.
Als ich den Flur betrete, steht Laura vor mir.
«Hast du gut geschlafen?», frage ich. Ich frage sie das jeden Morgen, dabei weiß ich gar nicht, was das soll. Entweder man schläft, oder man ist wach, doch ich weiß aus dem Fernsehen, dass Leute einander diese Frage stellen.
Sie tritt einen Schritt zurück, um sich Raum für die Antwort zu nehmen.
Wie schön sie noch immer ist! Ich nicke und sage: «Aha», und: «Ach», während sie von einer Reise und einem Zauberer und einem Rosenbeet erzählt, Abertausende Rosen, ein weites Meer. Kann man wirklich so etwas träumen? Vielleicht erfindet sie es ja auch, so wie ich fast alles erfinde, was ich erzähle.
«Hörst du mir zu?», fragt sie.
«Natürlich. Rosenbeet.»
Als sie weiterredet, schalte ich unauffällig mein Telefon ein: 8. August 2008, zweitausendsiebenhunderteinunddreißig ungelesene E-Mails. Und genau in dem Moment, da ich auf den Schirm blicke, kommen zwei hinzu.
«Interessiert dich das mehr als das, was ich sage?»
«Liebste!» Schnell stecke ich das Gerät ein. «Prinzessin! Gar nicht interessiert es mich! Sprich weiter.»
Das stimmt sogar, ich lese seit Wochen keine E-Mails mehr. Aber weil es die Wahrheit war, hält sie es für eine Lüge und schiebt schmollend ihre Unterlippe vor.
«Laura! Bitte weiter! Bitte!»
Offenbar treffe ich heute nicht den richtigen Ton, denn ihre Stirn kräuselt sich vorwurfsvoll. «Marie
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