Fabelheim: Roman (German Edition)
erklärte Opa. »Der längste Tag des Jahres. Die Nacht davor feiern die launenhaften Geschöpfe von Fabelheim ein Fest zügelloser Ausschweifungen. An vier Nächten im Jahr lösen sich die Grenzen auf, die den Wesen hier gesetzt sind. Ohne diese Nächte würden die Regeln, die hier sonst gelten, nicht funktionieren. In der Mittsommernacht sind die Mauern dieses Hauses die einzigen Grenzen, die der Bewegungsfreiheit und den Streichen einer jeden Kreatur gezogen sind. Wenn man sie nicht einlädt, können sie nicht eindringen.«
»Du meinst morgen Nacht?«, fragte Seth.
»Ich wollte euch keine Zeit geben, euch deswegen Sorgen zu machen. Solange ihr meinen Anweisungen folgt, wird die Nacht ohne Zwischenfälle vorübergehen. Es wird laut werden, aber euch wird nichts geschehen.«
»In welchen anderen Nächten schweifen sie so frei umher?« , fragte Kendra.
»Zur Wintersonnenwende und zu den beiden Tag- und
Nachtgleichen. Die Mitsommernacht ist in der Regel die wildeste von allen.«
»Können wir vom Fenster aus zusehen?«, fragte Seth begierig.
»Nein«, antwortete Opa. »Und es würde euch auch nicht gefallen, was ihr sehen würdet. In den Festnächten nehmen Albträume Gestalt an und durchstreifen den Garten. Uralte, unvorstellbar böse Wesen lauern in der Dunkelheit auf Opfer. Ihr werdet bei Sonnenuntergang im Bett sein. Ihr werdet Ohrstöpsel tragen. Und ihr werdet nicht aufstehen, bis der Sonnenaufgang die Greuel der Nacht vertreibt.«
»Sollen wir in deinem Zimmer schlafen?«, fragte Kendra.
»Das Spielzimmer auf dem Dachboden ist der sicherste Ort im Haus. Der Raum ist mit zusätzlichen Schutzzaubern versehen, als Zuflucht für Kinder. Selbst wenn durch irgendein Missgeschick unerfreuliche Kreaturen ins Haus kämen, wäre euer Zimmer nach wie vor sicher.«
»Ist schon jemals etwas ins Haus gekommen?«, wollte Kendra wissen.
»Nichts Unerwünschtes hat je die Mauern dieses Hauses überwunden«, sagte Opa. »Trotzdem, wir können nie vorsichtig genug sein. Morgen werdet ihr helfen, einige Abwehrmaßnahmen vorzubereiten, die uns zusätzlichen Schutz verschaffen. Wegen des jüngsten Aufruhrs mit den Feen fürchte ich, dass dies eine besonders chaotische Mittsommernacht werden könnte.«
»Ist hier schon mal jemand gestorben?«, fragte Seth. »Auf deinem Land, meine ich?«
»Dieses Thema sollten wir uns für ein andermal aufsparen«, sagte Opa und stand auf.
»Der eine Bursche, der sich in Löwenzahnsamen verwandelt hat«, bemerkte Kendra.
»Sonst noch jemand?«, beharrte Seth.
Opa sah sie einen Moment lang ernst an. »Wie ihr langsam merkt, sind diese Reservate gefährliche Orte. Es hat in der Vergangenheit ein paar Unfälle gegeben. Diese Unfälle widerfahren im allgemeinen Menschen, die sich an Stellen wagen, an denen sie nichts zu suchen haben, oder sich in Angelegenheiten einmischen, die ihre Kenntnisse bei weitem übersteigen. Wenn ihr euch an meine Regeln haltet, habt ihr nichts zu befürchten.«
Die Sonne stand noch nicht hoch über dem Horizont, als Seth und Dale den zerfurchten Feldweg entlanggingen, der von der Scheune wegführte. Seth war der von Unkraut überwucherte Fahrweg nie aufgefallen. Er begann auf der dem Haus abgewandten Seite der Scheune und führte in den Wald. Nachdem er sich eine Weile zwischen den Bäumen hindurchgeschlängelt hatte, führte er sie über eine weite Wiese.
Nur vereinzelt hingen ein paar Wolkenfetzen am leuchtend blauen Himmel. Dale legte ein zügiges Tempo vor, und Seth schwitzte bereits. Der warme Tag versprach gegen Mittag richtig heiß zu werden.
Seth hielt Ausschau nach interessanten Geschöpfen. Er sah Vögel, Eichhörnchen und Kaninchen auf der Wiese – aber nichts Übernatürliches.
»Wo sind all die magischen Tiere?«, fragte er.
»Das ist die Ruhe vor dem Sturm«, antwortete Dale. »Ich gehe davon aus, dass die meisten von ihnen sich für heute Nacht ausruhen.«
»Welche Monster werden denn heute Nacht draußen sein?«
»Stan hat mich gewarnt, dass ihr versuchen könntet, Informationen aus mir herauszuholen. Es ist das Beste,
nicht allzu neugierig zu sein, was diese Art von Dingen angeht.«
»Das ist es ja gerade, was mich so neugierig macht, dass mir niemand etwas erzählen will!«
»Es ist zu deinem eigenen Besten«, sagte Dale. »Zum Teil sagen wir euch deshalb nichts, weil ihr sonst vielleicht Angst bekommen würdet. Andererseits könnte es euch noch neugieriger machen, wenn wir euch etwas erzählen.«
»Wenn Sie es mir erzählen,
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