Fabelheim: Roman (German Edition)
gespürt.«
»Wie meinen Sie das?« Kendra versetzte einen Zapfen auf dem Spielbrett.
»Ich wollte dir schnell zu Hilfe eilen, und schon lag ich bäuchlings auf dem Küchenboden. Dein Großvater war noch vor mir bei dir, und er ist nicht gerade ein Athlet.«
»Es war nicht Ihre Schuld.«
»In meiner Jugend wäre ich in null Komma nichts bei dir gewesen. Ich war ziemlich gut bei Notfällen. Jetzt kann ich jemandem nur noch zu Hilfe humpeln.«
»Sie sind immer noch sehr fit.« Kendra gingen die Züge aus. Ein Zapfen stand bereits allein auf weiter Flur und würde auf jeden Fall übrig bleiben.
Lena schüttelte den Kopf. »Auf dem Trapez oder dem Hochseil könnte ich mich keine Minute mehr halten. Früher war das kein Problem. Der Fluch der Sterblichkeit. Man verbringt den ersten Teil seines Lebens damit, Fertigkeiten zu erlernen, stärker zu werden. Und dann, ohne eigenes Verschulden, lassen deine Fähigkeiten wieder nach. Man fällt zurück. Starke Glieder werden schwach, scharfe Sinne werden stumpf, eine robuste Gesundheit verfällt. Schönheit verwelkt. Organe versagen einem den Dienst. Man erinnert sich an sich selbst in der Blüte seines Lebens und fragt sich, wo diese Person geblieben ist. Während deine Weisheit und Erfahrung immer größer werden, verwandelt sich dein verräterischer Körper in ein Gefängnis.«
Drei Zapfen waren noch übrig, und Kendra konnte keinen Sprung mehr machen. »So habe ich das noch nie betrachtet.«
Lena nahm Kendra das Brett ab und stellte die Zapfen neu auf. »In ihrer Jugend benehmen Sterbliche sich fast wie Nixen. Das Erwachsensein erscheint unendlich weit weg und noch ferner der Verfall des Alters. Aber ebenso schwerfällig wie unausweichlich kommt es herangehumpelt, bis es dich schließlich einholt. Es ist eine frustrierende und demütigende Erfahrung. Es macht mich rasend.«
»Aber bei einem unserer letzten Gespräche sagten Sie, Sie würden sich wieder genauso entscheiden«, rief Kendra ihr ins Gedächtnis.
»Das stimmt, wenn ich die Chance hätte, würde ich jederzeit wieder Patton wählen. Und jetzt, da ich erfahren habe, wie es ist, sterblich zu sein, glaube ich nicht, dass ich mit meinem früheren Leben wieder zufrieden sein könnte. Aber die Freuden der Sterblichkeit, der Kitzel des
Lebendigseins, haben einen Preis. Schmerz, Krankheit, der Verfall des Alters, der Verlust geliebter Menschen – auf diese Dinge könnte ich verzichten.«
Die Zapfen waren komplett aufgebaut. Lena machte den ersten Sprung. »Mich beeindruckt, wie ungezwungen die meisten Sterblichen mit dem Verfall des Körpers umgehen. Patton. Deine Großeltern. Viele andere. Sie akzeptieren es einfach. Ich habe immer Angst vor dem Altern gehabt. Seine Unausweichlichkeit verfolgt mich. Seit ich den See verlassen habe, ist die Aussicht auf den Tod zu einem bedrohlichen Schatten in meinen Gedanken geworden.«
Sie übersprang den vorletzten Zapfen, so dass nur noch ein einziger übrig blieb. Kendra hatte das schon einmal bei Lena gesehen, aber bisher war es ihr noch nicht gelungen, ihre Züge nachzuahmen.
Lena seufzte leise. »Aufgrund meiner Natur werde ich das Alter vielleicht viele Jahrzehnte länger ertragen müssen als gewöhnliche Menschen. Das demütigende Finale eines sterblichen Lebens.«
»Dafür sind Sie ein Genie im Zapfenspiel«, sagte Kendra.
Lena lächelte. »Der Trost meiner Winterjahre.«
»Sie können immer noch malen und kochen und alle möglichen Dinge tun.«
»Ich will mich nicht beklagen. Das sind keine Probleme, mit denen man einen jungen Menschen belasten sollte.«
»Ist schon in Ordnung. Sie machen mir keine Angst. Sie haben Recht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, erwachsen zu sein. Ein Teil von mir fragt sich, ob ich die Highschool-Zeit jemals erleben werde. Manchmal denke ich, dass ich vielleicht jung sterbe.«
Die Tür zur Veranda ging auf, und Opas Kopf erschien. »Kendra, ich muss ein paar Worte mit dir und Seth reden.«
»Okay, Opa.«
»Kommt ins Arbeitszimmer.«
Lena stand auf und bedeutete Kendra, ihrem Großvater zu folgen. Kendra ging ins Haus und folgte Opa ins Arbeitszimmer. Seth saß bereits in einem der riesigen Sessel und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne. Kendra setzte sich in den anderen, und Opa ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder.
»Übermorgen ist der 21. Juni«, sagte Opa. »Weiß einer von euch, was das bedeutet?«
Kendra und Seth sahen sich an. »Dein Geburtstag?«, riet Seth.
»Die Sommersonnenwende«,
Weitere Kostenlose Bücher