Fabelheim: Roman (German Edition)
spritzten wie Feuerwehrschläuche. Sie mussten jeder mindestens siebzig Stürze absolviert haben, bevor der Milchstrom zu verebben begann.
»Andere Seite«, keuchte Kendra völlig außer Atem.
»Meine Arme sind tot«, jammerte Seth.
»Wir müssen uns beeilen.«
Sie schoben die Leitern vor die andere Zitze und wiederholten
die ganze Prozedur. Kendra versuchte, sich einzureden, sie wäre auf einem wunderlichen Spielplatz, auf dem die Kinder in Milch statt durch Sand wateten und an dicken, fleischigen Stangen herunterrutschten.
Beim ersten Anzeichen, dass der Milchstrom auch auf dieser Seite verebbte, brachen sie erschöpft zusammen und scherten sich nicht darum, dass sie in Milchpfützen lagen; ihre Kleider und Haare waren ohnehin bereits vollkommen durchnässt. Beide rangen sie verzweifelt nach Luft. Kendra legte sich eine Hand auf den Hals. »Mein Herz schlägt wie ein Presslufthammer.«
»Ich dachte, ich würde kotzen, so widerlich war das«, jammerte Seth.
»Mir macht die Müdigkeit mehr zu schaffen als die Übelkeit.«
»Denk doch mal nach. An uns tropft warme, rohe Milch herunter, und wir sind ungefähr hundert Mal mit dem Gesicht über einen Kuhnippel gerutscht.«
»Mehr als hundert Mal.«
»Wir haben die ganze Scheune überflutet«, ergänzte Seth. »Ich werde nie wieder Milch trinken.«
»Und ich werde nie wieder einen Spielplatz betreten«, schwor Kendra.
»Was?«
»Schwer zu erklären.«
Seth begutachtete den Bereich unter der Kuh. »Der Boden hat Abflussrinnen, aber ich glaube nicht, dass viel von der Milch hinunterfließt.«
»Ich habe einen Schlauch gesehen. Ich bezweifle stark, dass es der Kuh gefallen würde, wenn hier überall vergammelnde Milch rumschwimmen würde.« Kendra richtete sich auf und wrang Milch aus ihrem Haar. »Das war das härteste Training, das ich je gemacht habe. Ich bin tot.«
»Wenn ich das jeden Tag machen würde, würde ich bald aussehen wie Herkules«, meinte Seth.
»Hast du was dagegen, die Leitern wegzuräumen?«
»Nicht wenn du das Abspritzen übernimmst.«
Der Schlauch war lang und hatte einen guten Wasserdruck, und die Abflussrinnen schienen reichlich Kapazität zu haben. Das Wegspritzen der Milch entpuppte sich als der angenehmste Teil der ganzen Prozedur. Seth ließ sich von Kendra abspritzen und machte dann das Gleiche mit Kendra.
Von dem Zeitpunkt an, da das Melken ernsthaft begonnen hatte, hatte die Kuh keinen Laut mehr von sich gegeben und anscheinend keine weitere Notiz mehr von Kendra und Seth genommen. Jetzt riefen sie in der Scheune nach Opa und Lena, nur um ganz sicherzugehen. Sie begannen ganz leise, um die Kuh nicht zu erschrecken, aber bald schrien sie aus voller Kehle. Doch wie es schon den ganzen Tag über ihr Los gewesen war, blieben ihre Rufe unbeantwortet.
»Sollen wir zurück ins Haus gehen?«, fragte Kendra.
»Ich schätze, ja. Es wird bald dunkel werden.«
»Ich bin müde. Und ich habe Hunger. Wir sollten uns auf die Suche nach etwas Essbarem machen.«
Sie verließen die Scheune. Der Tag näherte sich seinem Ende.
»Du hast einen großen Riss in deinem Hemd«, sagte Kendra.
»Das ist passiert, als wir vor der Ogerin davongelaufen sind.«
»Ich habe ein pinkfarbenes T-Shirt, das ich dir leihen kann.«
»Mit dem hier geht’s auch«, erwiderte Seth, »sobald es wieder trocken ist.«
»Mit dem rosafarbenen kannst du dich genauso gut verstecken wie mit deinem albernen Tarnhemd«, beharrte Kendra.
»Sind eigentlich alle Mädchen so hirnverbrannt wie du?«
»Du willst mir erzählen, dass ein grünes Hemd dich für Monster unsichtbar macht?«
»Nein. Weniger sichtbar. Weniger, das ist der Punkt. Weniger als das blaue, das du anhast.«
»Ich schätze, ich sollte mir vielleicht auch ein grünes anziehen.«
KAPITEL 13
Eine unerwartete Botschaft
K endra saß auf dem Boden im Esszimmer und nahm einen Bissen von ihrem zweiten Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade. Nachdem sie und Seth die Küche durchstöbert hatten, hatten sie genug zu essen gefunden, um ganze Wochen damit auszukommen. In der Speisekammer waren Dosen mit Obst und Gemüse, unversehrt gebliebene Gläser mit Eingemachtem, Brot, Hafermehl, Cracker, Thunfisch und viele andere Sachen. Der Kühlschrank funktionierte noch, obwohl er auf der Seite lag, und sie räumten die Glasscherben beiseite, so gut sie konnten. Es waren noch reichlich Milch, Käse und Eier da, und in der Tiefkühltruhe gab es Unmengen Fleisch.
Kendra nahm noch einen Bissen und lehnte sich zurück.
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