Fabula

obendrein. Dass er den Tod linden würde, weil er einen waghalsigen Kletterversuch unternehmen würde, um das Nistverhalten einer Dreizehenmöwe besser beobachten zu können, hätte wohl niemand jemals vermutet.
    Trotzdem war es genau so passiert.
    Colin Darcy fragte sich später oft, wo er damals wohl gewesen war in jenem Moment, als sein Vater gestorben war. Es war am späten Nachmittag geschehen, und da hatte er sich meistens in der Bibliothek aufgehalten. Der Anruf hatte ihn abends erreicht. Die gute Miss Robinson hatte ihm mitgeteilt, dass sein Vater bei einer seiner Wanderungen abgestürzt sei, das war alles. Colin solle doch bitte nach Hause kommen.
    Archibald Darcy war an jenem Tag nach St. Abb's Head gefahren, wo er auf einem schmalen Klippenweg zu den Nistplätzen gegangen war. Colin kannte die Gegend. Danny und er hatten ihren Vater einige Male dorthin begleiten dürfen. Ein rauer Wind blies vom Meer her, und man musste den Blick wachsam auf den Boden gerichtet halten, weil die Pfade glitschig waren von Gischt und Regen. Schwärme von Vögeln gab es dort zu beobachten, und das war auch der Grund, weshalb es Archibald Darcy immer und immer wieder dorthin verschlug. Es gab Eissturmvögel, Dreizehenmöwen, Silbermöwen, Tordalke und Trottellummen, darüber hinaus Krähenscharben und eine ganze Reihe von See- und Papageientauchern.
    Colin und Danny hatten immer ganz leise sein müssen, wenn sie ihren Vater dorthin begleiten durften. Sie hatten sich Jägersitze mitgebracht, die man in den matschigen Boden rammen und auf denen man dann sitzen konnte. Das machte es einfacher, die Vögel zu beobachten.
    Der Rest war Schweigen und Flüstern. Der Meereswind blies kalt und salzig in ihre Gesichter, und Archibald Darcy klärte seine Söhne über das lautstarke Paarungsverhalten der Silbermöwen auf, zeigte ihnen geduldig, wie Eissturmvögel jagten und Papageientaucher tauchten. In jenen seltenen Momenten waren sie einander nahe gewesen, Danny, Papa und er. Es gab nichts, was zwischen ihnen stand.
    »Glaubst du«, hatte Danny ihn auf der Beerdigung gefragt, »dass er freiwillig gesprungen ist?« Sie hatten unter einem der Bäume gestanden, an deren Ästen sie gelbe Bänder befestigt hatten, einer Eiche.
    »Ich weiß es nicht«, hatte Colin geantwortet, die anderen Trauergäste beobachtet und leise, ganz leise, hinzugefügt: »Möglich.«
    Jetzt dachte er, dass er seinen Vater immer so sehen würde. Mit der Pfeife im Mundwinkel, die dunklen Augen ernst und voller Lebensfreude, das Fernglas in der Hand, hoch oben an den Klippen von St. Abb's Head, wo die Möwen laut kreischend ihre Runden zogen, als wären sie entsetzt über die Voyeure, die sich an ihre Nester heranschlichen und lauernd im hohen Gras hockten.
    Das Grübchen am Kinn hatte Colin von seinem Vater geerbt. Vieles andere auch.
    Er hatte seinen Vater geliebt.
    Und Danny hatte es auch getan, wenn er es auch niemals zugegeben hätte. Getan hatte er es, das wusste Colin. Und Danny, der wie sein Bruder bei der Beerdigung keine einzige Träne um den alten Herrn vergossen hatte, sondern erst nachher, als er allein gewesen war, wusste, dass der Unfall sie beide bis ins Mark getroffen hatte, weil ihr Vater sie, die Sohne, mit Helen Darcy allein zurückgelassen hatte.
    Wie Sargnägel, die in morsches Holz geschlagen werden, so klang das Wort für sie.
    Allein.
    Allein.
    Allein.
    Als der Sarg in die Erde gesenkt worden war, da war ihnen beiden klar geworden, dass sie niemals mehr nach Ravenscraig zurückkehren würden. Nie, nie mehr.
    Colin fragte sich, ob auch Mary nie wieder nach London zurückkehren würde.
    Wie Danny und er selbst nie wieder in die Rhinns zurückgekehrt waren.
    Ja, damals hatten sie es schon gewusst.
    Jetzt saß Colin Darcy im engen Sitz des Fliegers, der im Landeanflug auf Prestwick war, und fragte sich, ob er das Richtige tat. Alles, was bisher sein Leben ausgemacht hatte, hatte er in London zurückgelassen. Sogar SigmaCom.
    Auch Arthur. Der nun tot war.
    Die bunten Federn.
    Das Geheimnis, das vielleicht alles miteinander verband.
    Archibald Darcy jedenfalls war zu Tode gestürzt, an den Klippen von St. Abb's Head, vor sieben Jahren.
    Die tosende Brandung musste seinen Körper gegen die Klippen geschmettert haben, und als das Flugzeug zur Landung ansetzte und einige Luftlöcher passierte, da fragte sich Colin, ob sein Vater, als er in die Tiefe stürzte, ähnlich empfunden hatte.
    Den Leichnam hatte man, wie in einem Hitchcock-Film, nie gefunden.