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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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los, als habe er sich verbrannt.
    »Lass das!«, herrschte er seine Mutter an.
    »Ich bin nur besorgt«, sagte Helen Darcy.
    »Ich weiß, was du vorhast.«
    »Colin, es geht dir nicht gut.« »Wage es bloß nicht!«
    »Du bist ja ganz von Sinnen.«
    »Bin ich nicht.« Er holte tief Luft und spürte den Alkohol in jeder Bewegung.
    »Man verliert den Boden unter den Füßen«, hörte er seine Mutter sagen, »wenn man zu viel getrunken hat, dann dreht sich alles, und man versinkt in seinem Elend und seinem Schmutz.«
    Colin stöhnte.
    Er spürte es bereits.
    Das Bild vor ihm an der Wand zeigte einen Reiter, der neben seinem Pferd stand. Er hielt die Zügel des stolzen Tieres, das bis zur Brust im Moor steckte. Die Augen des Pferdes waren weit geöffnet. Colin kannte das Schicksal der beiden. Helen Darcy hatte ihm die Geschichte erzählt, als er noch ganz klein gewesen war. In allen grausamen Einzelheiten hatte sie ausgeschmückt, wie der junge Soldat, der eine wichtige Nachricht an Lord Wellington überbringen sollte, sich in den Mooren von Yorkshire verirrte, weil er in einer der Gaststätten vom Weg abgekommen war und Wein getrunken hatte.
    »Verlasse niemals den Weg, der dir bestimmt ist«, so lautete die Moral der Geschichte, »denn sonst gehst du unter.«
    Der junge Soldat verirrte sich und geriet ins Moor, wo zuerst sein Pferd versank und dann er selbst.
    Colin war sechs Jahre alt gewesen, als er die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte.
    Und in jener Nacht, als er sturzbetrunken durch Ravenscraig getorkelt war, spürte er zum ersten Mal, wie der eisige Schlamm und der Morast an ihm zerrten und sich das kalte Wasser an ihm satt fressen wollte. Er wusste, dass er kläglich ersticken würde, wenn ihm der dicke Moorboden übers Gesicht fließen und seinen Mund bedecken würde.
    Er fühlte es.
    Colin Darcy begann im Schmutz zu versinken, weil Trunkenbolde nun einmal dazu neigen, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er begann zu schreien, als das Moor ihm über die Schultern floss, als der stinkende Dreck ihm den Mund füllte.
    Helen Darcy war nirgends mehr zu sehen. Der Korridor selbst war nirgends mehr zu sehen.
    Colin Darcy war allein in einem abgelegenen Moor, es war mitten in der Nacht, und er würde sterben wie der böse Ritter in Ivanhoe. Er würde nicht heldenhaft wie Robert Taylor sein, nein, er wäre derjenige, der unterging und an den sich niemand mehr erinnern würde.
    »Colin!«
    Er blinzelte.
    »Colin, wo bist du?«
    Livia war bei ihm.
    Sie war nicht fort. Und er war nicht betrunken. Er war auch nicht im Moor.
    »Was hast du?«, wiederholte Livia besorgt.
    »Ich ...« Er hielt kurz inne, trat einen Schritt von dem Bild zurück. »Das ist ein Soldat Lord Wellingtons«, sagte er nur. »Er sollte eine Botschaft nach London bringen.« Er ahnte, wie das für den Constable aussehen mochte, aber daran konnte er jetzt nichts mehr ändern. »Das Bild hing früher oben, gleich neben meinem Zimmer.« Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Reiter. »Er ist nur deswegen im Moor versunken, weil er vom rechten Weg abkam.« Colin sah in die Gesichter der anderen, und es war unschwer zu erkennen, dass keiner so richtig verstand, wovon er redete. »Ich hatte diese Geschichte einfach nur vergessen«, sagte er, und irgendwie stimmte das ja auch. »Das ist alles. Ich habe mich erinnert, nichts weiter.«
    Livia rollte mit den Augen.
    Und Constable Plummer, den das alles nicht wirklich zu interessieren schien, der aber dennoch alles und jeden aufmerksam beobachtet hatte, fragte ungeduldig: »Dann können wir ja jetzt weitergehen?«
    Die Augen des hungrigen Hais waren überwachsam, und Colin wusste, dass sein Verhalten alles andere als vernünftig wirkte.
    Dieses verfluchte Haus!
    Wie hatte er das alles nur vergessen können?
    Warum war es so schwer, sich einzugestehen, was Helen Darcy zu tun vermocht hatte, und sich damit abzufinden? Colin wollte noch immer nicht glauben, dass all die Dinge hier wirklich passiert waren. Es konnte sich doch nur um die Einbildungen eines Kindes gehandelt haben.
    Oder?
    »Lass dir das eine Lehre sein«, hörte er die Stimme seiner Mutter. Das hatte sie immer gesagt, wenn sie Danny oder ihn gemaßregelt hatte, immer, immer, immer.
    »Colin, was war denn das eben?«, flüsterte Livia. Ganz dicht ging sie neben ihm.
    »Später«, grummelte er zurück, »später.«
    »Du musst dich nicht fürchten«, sagte Livia leise. »Sie ist fort.«
    »Das ist noch nicht sicher«, gab er zur Antwort,

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