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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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orakelt?«
    Er sah sie von der Seite an. »Allein oder mit einem Radio?«
    »Du glaubst mir nicht.«
    »Hm.«
    Sie starrte ihn an. »Was war denn das?« Sie machte ihn nach: »Hm?« Er nickte. »Hm«, wiederholte er. Sie musste lachen.
    Geduldig erklärte es Colin ihr: »Das ist ein leiser Ton, der Zustimmung bedeutet.«
    »Hm bedeutet also, dass du mir nicht glaubst?«
    »Hm.«
    »Du solltest das nicht sagen, Colin, wirklich. Ich finde deine Stimme einfach wunderschön, aber du quakst ein wenig. Und wenn du Hm sagst, dann quakst du noch mehr.«
    Colin erwiderte nichts, nicht mal Hm.
    Ein Knirschen und Knacken erklang aus dem Radio, als sie mittels langsamen Drehens des dicken runden Knopfes einen Sender suchte. »Was willst du wissen?«, fragte sie.
    »Wie meinst du das?«
    »Es ist ganz einfach«, erklärte sie ihm so geduldig, wie es nur frisch Verliebte tun können. »Du stellst eine Frage, die dich wirklich interessiert, und der nächstbeste Sender, der sich einstellt, wird dir die Antwort geben.«
    »Das funktioniert?«
    »Probier's aus.«
    »Okay, das ist ein Test.« Colin überlegte nicht lange und fragte: »Wie geht es Miss Robinson?« Livia nickte. Sie drehte am Knopf.
    Das Knirschen und Knacken verschwand, und eine Melodie schälte sich aus dem Äther.
    »Simon and Garfunkel?« Jetzt konnte er sich ein Grinsen wirklich nicht verkneifen. »Das ist doch ein Trick.«
    »Ist es nicht.«
    »Ganz sicher?«
    Siegessicher lachte sie: »Es funktioniert, das sagte ich doch.« »Jetzt du!«
    »Radio«, sprach sie das alte Gerät höflich und ein wenig theatralisch an und schielte zu Colin hinüber, »wie sieht die Zukunft des einzigartigen Mr. Colin Darcy aus?« Sie zwinkerte ihm zu.
    Dann drehte sie am Knopf, bis sie den nächsten Sender erwischte,
    Raindrops keep failing on my head.
    »B, J. Thomas«, stellte Livia fest.
    »Du findest, das passt zu mir?«
    »Ja, das tut's.«
    Colin konzentrierte sich auf die Straße, da gerade ein Laster mit Schafen an seinem Rover vorbeifuhr. »Jetzt überholen uns schon die Schafe«, murrte er.
    Livia beachtete den Laster gar nicht. »Das ist dein Lied, Colin. Ich habe es seit Jahren nicht mehr gehört. Als ich ein Kind war, hatte mein Vater die Platte. Diese Melodie, so bist du.«
    »Blöde Schafe«, sagte Colin, dann musste er lachen. »Findest du?«
    »Ja, finde ich. Du nicht?«
    »Hm.«
    »Komm, wir machen weiter.«
    »Weiter?«
    »Stell deine Frage.«
    Der Rover fuhr über einen Hügel, und vor ihnen tauchte die Küste mit Portpatrick auf. Dunkle Wolken zogen sich am Himmel zusammen, aber zu mehr als dem andauernden Nieselregen reichte es wohl noch immer nicht.
    »Hallo, altes Radio«, sagte Colin Darcy beschwingt und beschloss, aufs Ganze zu gehen. »Wie geht es meiner Mutter?«
    Livia pfiff durch die Zähne. »Das willst du wirklich wissen?«
    Er nickte. »Sonst hätte ich nicht gefragt.«
    »Okay.«
    Er konkretisierte die Frage: »Wie geht, es Helen Darcy?«
    Livia drehte am Knopf. Keine zwei Sekunden später ertönten Mike and the Mechanics mit Say it loud. Livia warf Colin einen vielsagenden Blick von der Seite zu. »Jetzt wird es unheimlich«, kommentierte er den Song. »Du hast gefragt.«
    Colin schwieg.
    Er lauschte dem Lied, sonst nichts.
    Längst vergessene Bilder überfluteten ihn, völlig überraschend. Helen Darcy, wie sie ihren beiden Söhnen vor dem Einschlafen lange Geschichten vorlas und es ihnen erlaubte, die wunderbarsten Welten zu besuchen und die haarsträubendsten Abenteuer zu erleben. Sie machte ihre Jungs zu Helden, zu Cowboys und Indianern, zu Astronauten, Wüstenwanderern und Piloten, keine Mühe war ihr zu groß. Sie zauberte tonnenweise zuckersüßes Glück in die Kindergesichter, so viel Glück, wie eine gute Mutter nur zu zaubern vermochte. Doch dann, als sei es tückisch, machte das Leben die Jungs älter. Alles veränderte sich. Das Glück machte der Furcht Platz, und von den Zauberlippen der Mutter tropften Albträume und Trugbilder.
    »Colin?« Er spürte Livias Hand an seinem Arm.
    Er blinzelte.
    »Alles in Ordnung.«
    Mike and the Mechanics sangen jetzt nicht mehr.
    Jede Generation, dachte Colin, trägt die Last der Eltern mit sich herum.
    »Woran hast du gedacht?«
    Er sagte es ihr. »Sie hat nie mit uns geredet, nicht wirklich. Doch ganz früher war sie anders.«
    »Bist du dir sicher?«
    »Nein.«
    »Aber?«
    »Die Erinnerungen an die Dinge, die früher waren, sind doch kaum mehr als die Welt, so wie sie ein Kind gesehen hat. Ich weiß

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