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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Glas. »Man kann sie fühlen«, flüsterte sie, als habe sie Angst, die Bienen aufzuschrecken.
    »Glaubst du, wir können die Pension verlassen?«, fragte Colin.
    »Es sind nicht die Vögel«, antwortete sie.
    »Jetzt«, grummelte er, »bin ich aber beruhigt.«
    Livia zuckte die Achseln. Wenn sie die Hand bewegte, dann reagierten die Bienen auf der anderen Seite der Fensterscheibe. »Es kribbelt ein wenig, irgendwie. Selbst durch das Glas hindurch.« Sie war mit dem Gesicht ganz nah am Fenster. »Sie sehen wunderschön aus.«
    »Komm besser wieder her.«
    »Gleich.«
    Colin wollte gerade etwas Geistreiches erwidern, als die Scheibe mit einem lauten Krachen implodierte. Zumindest sah es so aus, als würde sie in Scherben zerfallen. In Wirklichkeit aber war etwas vollkommen anderes geschehen, etwas, was gar nicht hätte geschehen dürfen.
    Die Fensterscheibe war verschwunden.
    Colin hatte keine Ahnung, wie das passieren konnte.
    Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass es passiert war. Das Glas war fort, von einem Augenblick auf den anderen.
    Der auf einmal wild tosende Bienenschwarm ergoss sich in den Raum, so aufbrausend schnell und überraschend, dass Livia nicht einmal die Zeit fand zu schreien.
    Noch immer stand sie vor dem Fenster, noch immer hielt sie die Hand ausgestreckt.
    Die Bienen spülten sie einfach hinfort, genauso sah es aus.
    Es war eine Flutwelle aus Bienenleibem, die surrend, summend und brummend über Livia herfielen, ihren Körper in Windeseile bedeckten, sodass man binnen eines Blinzeins nur noch erahnen konnte, wo sie war. Immer wieder neue Bienen drangen in den Raum ein und stürzten sich auf Livia, die sich, nachdem sie am Boden lag, gar nicht mehr bewegte.
    Colin spürte, wie ihn tatenlose Verzweiflung überkam. Sic durften ihm Livia nicht wegnehmen, das war der Gedanke, der ihn anschrie. Sie duften ihr nichts tun.
    Aber es waren so viele.
    Er sah sich Lim. spürte, wie ihn das Adrenalin und die plötzliche Furcht unter Strom setzten.
    Er könnte eine Decke vom Bett herunterziehen und damit die Bienen verscheuchen. Nun ja, es wäre einen Versuch wert. Er hielt inne, nein, das war keine gute Idee. Die Bienen würden sich dadurch nicht verscheuchen lassen, allenfalls würden sie Livia stechen.
    Was aber sollte er sonst tun?
    Wie viele Bienenstiche konnte ein Mensch verkraften, bevor er starb?
    Er musste sich entscheiden, so oder so, viel Zeit blieb ihm nicht mehr, er musste etwas tun!
    Panik begann an seinen Eingeweiden zu fressen. Nein, er würde Livia nicht ein zweites Mal verlieren, nicht hier, nicht jetzt. Das durfte einfach nicht sein.
    Die Bienen waren überall. Jedes einzelne Tier, das durch das Fenster kam, stürzte sich auf Livia, aber kein einziges kümmerte sich um Colin. Sie würden Livia stechen, ja, mit Sicherheit würden sie das tun, und Colin hatte keine Ahnung, wie sie auf Bienenstiche reagieren würde. Sie war niemals gestochen worden, damals, als sie zusammen gewesen waren. Meldungen von Bienenopfern kamen Colin in den Sinn, und die Panik wuchs heran zu einem großen Tier, das langsam sein Bewusstsein auffraß.
    Denk nach, verdammt noch mal, denk einfach nach!
    Er kniete sich verzweifelt neben Livia und versuchte, ihr mit bloßen Händen die Bienen vom Leib zu halten. Natürlich wusste er, dass dies nicht die beste Lösung war, aber er wusste auch, dass es reiner Instinkt war, der ihn handeln ließ.
    Die Bienen summten verärgert, stachen aber nicht zu.
    Colin konnte die Bienenleiber mit den Händen beiseitewischen, doch die Lücken, die er auftat, schlossen sich sogleich wieder, wenn neue Bienen sie füllten.
    Nein, so ging es nicht.
    Ein Teil von ihm fragte sich, warum die vielen Bienen nicht auf ihn reagierten. Normalerweise taten sie das doch. Wenn sie jemand bedrängte, dann zeigten sie eine Reaktion. Jeder wusste, dass man nicht nach ihnen schlagen sollte, und Colin schlug jetzt schon seit fast einer Minute ununterbrochen nach ihnen.
    Denk nach!
    Ruhe!
    Logik!
    Er dachte daran, wie er normalerweise an Fallstudien heranging, die viele Kollegen vor ein unlösbares Problem stellten. Ja, er blieb ruhig, das war die Lösung. Er betrachtete die Situation und das anstehende Problem einfach nur und suchte gar nicht erst nach einer Lösung des Problems. Die stellte sich meist von ganz allein ein, wenn man nur ruhig blieb.
    Es war immer so.
    Denk nach!
    Es würde auch jetzt so sein.
    Mehr und mehr Bienen strömten durch das Fenster, dessen Glasscheibe nicht mehr da war.

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