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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Menschen suchen mich auf, wenn sie andere Lösungen für ihre Probleme wünschen.« Wenn Madame Redgrave ruhig sprach, dann waren auch die Bienen ruhig. Wurde sie zornig, dann begannen die Schwärme in einem dumpfen, tiefen Ton zu summen.
    »Was für andere Lösungen?«, fragte Colin.
    »Andere Lösungen.« Das war die Antwort.
    Colin schaute hinüber zu Livia.
    »Sie schläft«, sagte Madame Redgrave, der sein Blick nicht entgangen war.
    Es fiel Colin schwer, Livia nicht helfen zu können. Aber etwas in dem Verhalten der seltsamen Frau in Weiß sagte ihm, dass sie ihr Wort halten und er Livia erwecken könnte, wenn dies alles vorbei wäre. Es war eben alles nur ein Geschäft.
    »Was haben Sie getan?«, wollte er von ihr wissen.
    Sie betrachtete die wuselnden Bienen, die auf ihrer faltigen alten Hand landeten. »Wie gut, Mr. Darcy, kennen Sie Ihre Mutter?« Die blauen Augen stachen sich in sein Herz, und es fröstelte ihn. »Wissen Sie, wer Helen Darcy ist?«
    Colin wusste, dass es jetzt an der Zeit war, die Karten auf den Tisch zu legen.
    »Wissen Sie, was Helen Darcy ist?«
    Leg die Karten auf den Tisch.
    Wenn nicht jetzt, wann dann?
    »Ich weiß, was sie tun kann.«
    »Nun gut, das ist doch schon ein Anfang, nicht wahr?!« Madame Redgrave nickte zufrieden und sagte: »Sie ist eine Sherazade, Ihre Frau Mutter, so ist das.«
    Colin lauschte wie gelähmt den Worten der Frau in Weiß, und er wusste, dass es die Wahrheit war, die sie aussprach. Colin erkannte es, ja, er erkannte die Wahrheit, wenn sie ihm ins Gesicht spuckte.
    »Das, was Helen Darcy erzählt, vermögen andere zu sehen, mehr noch, sogar zu erleben. Sie zaubert ganze Welten mit ihren Worten, das wussten schon die alten Kalifen. Wortwesen wie Ihre Mutter gab es schon immer. Haroun al-Raschid war mit einer Frau wie ihr verheiratet gewesen. Tja, Pech! Doch manchmal sind Geschichten nichts als Lügen, und wie wir alle wissen, sind Lügen manchmal gut und manchmal schlecht. Eine Sherazade, Mr. Darcy, ist ein äußerst mächtiges Wesen. Deshalb konnte Ihr Bruder sie nicht selbst beseitigen. Um einer Sherazade zu begegnen, muss man ganz andere Dinge tun.«
    Die Welt um Colin herum begann zu wanken.
    Denn der Moment, in dem man etwas Neues über die eigenen Eltern erfährt, kann so schmerzhaft sein, dass er einen von den Füßen zu reißen vermag. Es ist eine Tatsache, ein ungeschriebenes Gesetz des Lebens, dass jeder irgendwann erkennt, dass die Eltern nicht mehr die übermächtigen Wesen sind, als die man sie in seinem bisherigen Leben wahrgenommen hat, solange man ein Kind war. Unverhofft und plötzlich gibt es in jedermanns Leben einen Tag, an dem die Masken fallen und die eigenen Eltern zu schrumpfen beginnen. Man sieht sie als Menschen, von einem Moment auf den anderen, als einfache Menschen, mit all ihren Fehlern und Schwächen, und für ein Kind, das all die Jahre zuvor gottgleiche Wesen vor Augen hatte, ist dieser Tag ein schreckliches Erlebnis, immer, denn nun beginnt das Kind zu zweifeln.
    Keiner wusste das besser als Colin Darcy.
    Mutter ist eine Sherazade!
    Na, klasse!
    Alles, was bis zu diesem einen Zeitpunkt gültig war, zerrinnt einem zwischen den Fingern. Es ist fort, auf immerdar. Ein Kind weiß, dass die Eltern einen beschützen, dass, egal, was geschieht, es immer einen Ausweg gibt. Doch dann, mit einem Mal, steht man allein in der Welt, und man begreift, dass, was immer einem die Welt auch anzutun gedenkt, sie dies tun kann und dass man nur mehr aus eigener Kraft aus dieser dunklen Grube hervorkriechen und weiterleben und irgendwo sein Glück finden kann. Man erkennt, dass da keine Eltern mehr sind, die einem die Hand reichen, weil man erwachsen geworden ist.
    Eine Sherazade.
    Ein Wortwesen.
    Diese Augenblicke sind schmerzhafte Momente im Leben eines jeden Menschen.
    Und der Augenblick, in dem Colin Darcy die Gewissheit erhielt, dass seine Mutter ein magisches Wesen und den uralten Wurzeln ferner Mythen entsprungen war, konnte mit nichts verglichen werden, was er vorher erlebt hatte.
    Es war schockierend.
    Unbeschreiblich.
    Wow!
    Es war ein Witz!
    »Sie isieine Sherazade«, betonte Madame Redgrave.
    Und Colin murmelte nur: »Ja, ich weiß.«
    Denn das stimmte.
    Ich habe es schon immer gewusst
    Danny hat es gewusst.
    Das war die Wahrheit,
    Wie hätten wir es denn nicht wissen können ?
    Er hatte es gewusst, all die Jahre lang. Natürlich hatte er nicht gewusst, wie er das Wesen, das Helen Darcy schon immer gewesen war, hätte nennen sollen.

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