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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Sohn.«
    Die Wut kreischte auf in ihrer Stimme. »Ich kann ihn bestrafen, wie es mir passt.« Sie sprach die Worte so schnell aus, dass sie sich überschlugen.
    »Nein, das kannst du nicht!«, schrie Colin sie an. »Du lässt ihn gefälligst in Ruhe.«
    Archibald Darcy schwieg.
    »Sieh ihn dir an, Archie, das hat er von dir.«
    Ihr Vater sagte nur: »Colin, sie ist deine Mutter.«
    Und Helen Darcy fuhr fort, als habe ihr Mann gerade gar nichts gesagt. »Du hast den bösen Blick, Colin. Wer seine Mutter so anschaut«, fauchte sie ihren ältesten Sohn an, »dem werden die Augen bluten vor Scham, und er wird nicht mehr sehen können. Du kennst das Märchen.«
    Colin spürte einen Stich im Kopf und schrie auf.
    Instinktiv hielt er sich beide Hände vor die Augen und presste die Lider so fest zusammen, wie er nur konnte.
    Ja, verdammt, er kannte diese blöde Geschichte, dieses Märchen von dem jungen Kalifen, der seine Mutter nicht zu ehren wusste und deswegen mit Blindheit und Schinerzen, wie sie kein Mensch zuvor hatte ertragen müssen, geschlagen wurde. Helen hatte sie ihm schon vor langer Zeit erzählt.
    Sie hatte ihren Söhnen so viele Geschichten erzählt, dass es manchmal nur gewisser Stichworte bedurfte, um die Magic freizulassen und zu bewirken, was immer sie bewirken wollte.
    »Colin!« Das war Danny.
    »Was passiert mit mir?« Ein neuer Schmerz stach ihm mitten durch die Stirn, und jetzt ging Colin wimmernd in die Knie. Er spürte, wie ihm etwas Warmes zwischen den Fingern hindurchrann.
    »Du blutest«, flüsterte Danny, und seine Stimme war wie berstendes Eis. »Meine Güte, Colin, du blutest.« Dann begann Danny seine Mutter anzuschreien: »Hör auf, hör auf damit! Hör auf, ihn zu quälen. Hör auf damit.« Und in einem letzten Anflug von Verzweiflung schrie er: »Du Hexe!« Es war fast auch schon ein Fauchen, so voller Abscheu hörte Colin es ihn sagen. »Du machst uns alle krank.«
    Colin begann zu zittern.
    Er konnte nichts mehr sehen, und das machte ihm am meisten Angst.
    Er kniete hilflos auf dem Boden und blutete aus den Augen, und er wusste, dass dies das Werk seiner Mutter war. Ihm widerfuhr das gleiche Schicksal wie dem Kalifen in der Geschichte.
    Sein Kopf schmerzte wie verrückt, und die Gewissheit, dass die warme Flüssigkeit, die ihm aus beiden Augen rann und nach Eisen roch und ihm die Sicht vernebelte, sein eigenes Blut war, diese Gewissheit, dass Helen Darcy wieder einmal siegreich war, diese Gewissheit ließ die Wut in ihm noch größer werden.
    Es war einfach ungerecht!
    Nie hatten Danny und er sich dagegen zur Wehr gesetzt.
    Und sein Vater...?
    »Archibald!«, hörte er seine Mutter sagen. »Bring sie nach oben auf ihre Zimmer.«
    Er hörte Schritte.
    Mit letzter Kraft sagte er: »Nein.«
    »Und du«, richtete Helen Darcy ihre Worte an Danny, ohne Colin weiter zu beachten, »ich werde dich lehren, mich zu beleidigen. Mich, deine einzige Mutter.«
    »Du Hexe!«, schrie Colin aus Leibeskräften und spürte einen neuen Stich mitten durch den Kopf, der ihn winselnd am Boden festhielt. »Du blöde Hexe!« Warum, verdammt noch mal, unternahm sein Vater nie etwas, wenn sie so war wie jetzt? Warum? Das hatte er nie verstanden. Er spürte das Blut über sein Gesicht laufen, und dann hörte er Danny schreien: »Meine Haut, oh, Scheiße, meine Haut, Colin!«
    Colin wusste sofort, was los war.
    Vor drei Jahren hatten Colin und Danny sich Ben Hur angeschaut, den Film mit Charlton Heston und der Armbanduhr, dem Wagenrennen und der Seeschlacht. Doch das, was Danny am meisten beeindruckt hatte, waren die Leprakranken gewesen.
    Er hatte sich vor ihnen gefürchtet und in Büchern nachgelesen, was es mit dieser schrecklichen Krankheit auf sich hatte. Noch Tage nach dem Film war er abends zu Colin ins Bett gekrochen, weil ihn der Gedanke, selbst einmal Lepra zu bekommen, so sehr geängstigt hatte.
    Und Helen Darcy?
    Die wusste, wovor sich ihre Kinder fürchteten.
    »Sie tut es«, wimmerte Danny neben ihm, und Colin wusste, dass gerade sein schlimmster Albtraum zum Leben erwachte. »Alles schält sich ab, mein Gott, ich kann mir die Haut ...« Er heulte los, war keiner Worte mehr fähig, schluchzte.
    »Du - sollst - nicht - lügen«, betonte Helen Darcy irgendwo in der Finsternis aus Blut und Hautfetzen jedes einzelne Wort. »Du sollst nicht lügen, Danny, und du, Colin, sollst deinem Bruder kein schlechtes Vorbild sein. Ihr sollt eure einzige Mutter ehren, und ich werde euch lehren, es auch wirklich zu tun.

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