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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Das lasse ich mir nicht bieten. Ich habe euch beide geboren, unter Schmerzen. Ich habe mein Leben für euch geopfert und all die schönen Dinge mit euch getan, wisst ihr das denn nicht mehr? Ich war immer für euch da, und nie, hört ihr, nie habe ich mich beschwert. Was glaubt ihr eigentlich, was ihr euch erlauben könnt?«
    Colin hörte seinen Bruder schnaufen und kroch auf ihn zu. »Danny?«
    »It h bin hier,«
    Helen Darcy redete noch immer. »Die Geschichte von den gottlosen Reisenden, die im tiefen Wald von den Wölfen zerrissen werden, ist genau das Richtige für zwei Jungs, die sich nicht im Zaum halten können.«
    »Nein«, schrie Colin, und seine Stimme überschlug sich. »Nein, nein, nein.« Diese Geschichte war sein schlimmster Albtraum und Dannys auch. Es war der Traum, den Helen Darcy ihren Kindern schon geschenkt hatte, als sie noch ganz klein gewesen waren. »Das lässt du bleiben, du blöde Hexe!«
    Da, er hatte es schon wieder gesagt.
    Und er würde es noch mal sagen, wenn es sein musste. Einer musste es ja mal sagen.
    Colin stöhnte auf.
    Die Geschichte von den Wölfen, meine Güte!
    Er hatte damals noch in seinem Gitterbett geschlafen, als er diese Geschichte zum ersten Mal erlebt hatte. Zwei oder drei Jahre mochte er alt gewesen sein, als seine Mutter ihm zum ersten Mal die Geschichte von den Reisenden erzählte, die sich im tiefen Wald verirrten und an ein Rudel hungriger Wölfe gerieten. Der erste Wolf, der groß und stark war und ein graues Fell besaß, hatte das Pferd, das vor die Kutsche gespannt war, angefallen und sich förmlich durch es hindurchgefressen, bis er im Zaumzeug gefangen war und selbst die Kutsche ziehen musste. So endete die Geschichte normalerweise, wenn sie in Büchern stand: Der Wolf war der Dumme.
    In Helen Darcys Version der Geschichte aber nutzte der Wolf, der das Alphatier des Rudels war, seine scheinbar missliche Lage dazu, die Kutsche noch viel, viel tiefer in den Wald hineinzuziehen, in einen Talkessel, in den sich kein Mensch je verirrte und wo die anderen Wölfe warteten. Das Ende der beiden Reisenden war kein nettes Ende.
    Colin und Danny Darcy hatten am eigenen Leib erfahren, wie es den Reisenden ergangen war.
    Und Colin hatte die Bekanntschaft der Wölfe sogar schon gemacht, als Danny noch gar nicht geboren war. Er hatte allein in der Kutsche gesessen und gewusst, wohin der Wolf sie ziehen würde; die ganze Zeit über hatte er gewusst, was ihn dort vorn, wo die Tannennadeln den Boden bedeckten, erwarten würde.
    Und erst nachdem die ersten Wölfe die Zähne in sein Fleisch gegraben und er ihren fauligen Atem gerochen hatte, war er aufgewacht und wieder in Ravenscraig in seinem Zimmer gewesen.
    Ja, Helen Darcy wusste, wie man ein Kind bestraft, wenn es unartig gewesen war. Und heute fragte sich Colin, was ein dreijähriges Kind denn Schlimmes verbrochen haben musste, um so bestraft zu werden.
    Danny jedenfalls hatte das alles später auch zur Genüge erlebt.
    So war das gewesen.
    Jetzt krochen die beiden Darcy-Jungs über den Boden im Salon und wussten, dass es immer so weitergehen würde, weiter und weiter, wenn ihr niemand Einhalt gebieten würde.
    Auf ihren Vater konnten sie nicht zählen, das hatten all die Jahre, in denen sie vergeblich auf sein Eingreifen gewartet hatten, gezeigt. Archibald Darcy war seiner Frau treu ergeben, ob nun aus Liebe, falsch verstandener Loyalität oder einfach nur Feigheit.
    Und Helen Darcy, die eine überaus geschickte Sherazade war, hatte ihren Söhnen immer schon Geschichten erzählt. Unzählige Märchen, die böse endeten. Traurige Anekdoten, die gruselig waren. In Ravenscraig zu leben bedeutete, dass man jeden Augenblick in eine neue Geschichte eintauchen konnte, eine Geschichte, die einen nur schwer wieder losließ.
    So funktionierte ihre Kunst.
    Es war, wie immer, ganz einfach.
    Sie musste etwas erzählen, um Macht über einen Menschen zu erlangen, und wenn sie eine Geschichte bereits zuvor erzählt hatte, dann fiel es ihr nur umso leichter, diese Macht zu nutzen und mit ihrem Gegenüber zu tun, was sie tun konnte. Ja, sie konnte den Zuhörer dann jederzeit in diese Geschichte hineinversetzen; eine bloße Andeutung genügte völlig, um das zu bewirken.
    »Colin, ich bin hier.«
    Colin tastete blind nach der Stimme.
    Schließlich fand er die Hand seines Bruders. Sie fühlte sich an, als hinge die Haut in Fetzen an dem Fleisch darunter. »Es tut weh«, hörte er seinen kleinen Bruder wimmern.
    Danny mochte umgekehrt das Blut

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