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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sehen, das Colin aus den Augen rann.
    Helen Darcy wusste, dass ihr ältester Sohn eine höllische Angst davor hatte, blind zu werden. Deshalb hatte sie ihm die Geschichte von dem Kalifen erzählt, bereits vor Jahren.
    Ja, Helen Darcy wusste, wie sie ihre Söhne in Schach hielt, o ja, so war sie nun mal.
    »Wir gehen fort«, flüsterte Colin.
    »Ihr geht nirgendwo hin«, fauchte Helen Darcy, die das gehört hatte.
    Colin stöhnte auf, als ihn neue Stiche malträtierten. Er nahm all seinen Mut zusammen und schrie: »Du weißt, was mit Anna Boleyn passiert ist, du Hexe!« Er schrie es hinaus, weil die Verzweiflung ihm die Kraft dazu verlieh. Er wusste, dass Helen Darcy das Schicksal dieser Frau kannte. Jetzt würde sie spüren, wie es war, Anna Boleyn selbst zu sein. Sie würde fühlen, wie es war, nicht mehr geliebt zu werden, sie würde sehen, wie der Scharfrichter das Beil bis über den Kopf erhob, sie würde das Geräusch hören, wenn die Klinge die Luft direkt über ihrem Kopf zerschnitt. Das würde sie ablenken, für einige Momente, in denen Danny und er fortgehen würden.
    »Colin!«, schrie Helen Darcy, und dann wurde ihr Schreien zu einem Kreischen. Das war der Augenblick, in dem Colin wusste, dass sie mitten in der Geschichte angekommen war. »Nimm meine Hand, halt sie fest«, rief er Danny zu, der seiner Anweisung Folge leistete.
    Colin hörte, noch als er sich den fernen Ort vorstellte, wie Danny das Lied summte.
    My pony, my riñe and me.
    Und die Welt veränderte sich- »Wir sind nach Rio Bravo gegangen«, sagte Colin zu Livia. »Danach bin ich nie wieder dort gewesen. Und Danny, soweit ich weiß, auch nicht.«
    »Was ist mit deiner Mutter passiert?«
    »Sie ist uns gefolgt.«
    Livia lauschte dem Rest der Geschichte.
    »Rio Bravo war an diesem Tag nicht so, wie es sonst immer war, wenn wir dort ankamen.«
    Es war eigentlich eine ruhige kleine Stadt, irgendwo zwischen Texas und den Rhinns of Galloway gelegen, eine altmodische Welt, die den Erinnerungen zweier Kinder entsprungen war, den vagen Erinnerungen an einen Film, den sie nur ein einziges Mal gesehen hatten.
    So war es normalerweise dort.
    Ein Mexikaner spielte Trompete, irgendwo in der Ferne, und auch das war wie immer.
    Doch an diesem Montag im Herbst war die Hauptstraße menschenleer. Die wenigen Bewohner des kleinen Städtchens hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Fensterläden waren geschlossen worden, Türen verriegelt. Windhexen wirbelten durch die Gegend.
    Mit einem Mal verstummte die Melodie aus der Trompete.
    Eine Gruppe von Revolvermännern war in die Stadt gekommen. Miese Typen, die schnell die Hand an der Waffe hatten. Sie trugen Hüte mit breiten Krempen, die ihre Gesichter in Schatten tauchten, und dazu noch lange Staubmäntel, die sie wie böse Engel des Westens aussehen ließen. Sie waren unrasiert, und einige von ihnen sahen aus wie Henry Fonda, andere wie John Russell und Claude Atkins. Sie nannten sich Die Burdettes, und Colin und Danny liefen in sie hinein, als sie gerade den Salon in Ravenscraig hinter sich gelassen hatten.
    Ihr Anführer, der sich ihnen als Joe Burdette vorstellte, teilte ihnen mit, dass sie im Auftrag einer Lady hier seien, einer Lady, die man nicht warten ließ, wenn sie einen sprechen wallte.
    Colin trat vor und verlangte den Namen der Lady zu hören.
    Joe Burdette nannte ihn: Miss Mirren. Alles Land jenseits des Rio Bravo gehöre ihr, und bald würde ihr auch die Stadt gehören. Colin und Danny sollten die Burdettes zur Mirren Ranch begleiten, dann würde nichts Schlimmes geschehen.
    Und wenn wir es nicht tun? Colin Darcy, der hier mutig war und, wie sein Bruder auch, andere Kleidung trug, wenn er in Rio Bravo weilte, legte seine Hände auf die beiden Revolver mit den Griffen aus Sandelholz.
    Dann werden wir die Stadt dem Erdboden gleichmachen, antwortete Joe Burdette. Er sagte es mit einem Grinsen im Gesicht, ohne den Blick von Colin abzuwenden, ganz so, wie es der Bösewichter Art war in den Filmen, die die Jungs kannten.
    Das, antwortete Danny, werden wir ja sehen.
    Die Burdettes zogen ihre Waffen, und Colin und Danny, die in Rio Bravo als Chance und Dude bekannt waren, taten es ihnen gleich. Die Hände der Jungs waren wie Tänzer und die Revolver, die sie zogen, ihre Mädchen, die sie zum Tanz aufforderten, Sie zielten mit den Augen und trafen ihre Ziele mit den Herzen - und keiner der beiden dachte an das Gesicht ihres Vaters, als sie es taten. Danny und Colin, die gesundet waren von den

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