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Fado Alexandrino

Fado Alexandrino

Titel: Fado Alexandrino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: António Lobo Antunes
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des Kadetten, der er einmal war, wiederfand, dem Mann, der sich jetzt täglich rasierte und aus dessen Kehle einem merkwürdigen Zufall zufolge die eigene Stimme kam. Der Vater, der, den Spazierstock auf dem Schoß, auf seinem Invalidensessel saß, und den Kopf zur Seite neigte, um sprechen zu können:
    – Die Jahre vergehen, Junge, die Jahre vergehen, knurrte er mit satanischer Zufriedenheit.
    Sind es die Jahre, die vergehen, fragte der Oberstleutnant den Mann mit den Falten und den ergrauten Koteletten, der ihn mit einer undeutbaren, feindseligen Grimasse anstarrte, oder sind wir es, die uns, unabhängig von der Zeit, einem Bett in irgendeiner Klinik nähern, dem nebelhaften Schmerz, der der ruhigen, vollkommenen Leere des Todes vorangeht? Wie der Vater im Schlaf auf dem Ohrensessel starb (wir bemerkten es am Mikadostäbchengeräusch des Spazierstocks, der zu Boden fiel), wie das Kinn der Mutter während des Abendessens in den Teller mit Spaghetti stürzte und die Augen verblüfft über dem geriebenen Käse in der Schwebe blieben, wie du zwischen Sterbenden und grünlichen Judenschädeln gestorben bist, wie die Offiziere und die Soldaten im Krieg starben, wenn der Staub und der Lärm und der Pulvergeruch verflogen waren und man die Leichen noch im Fahrerhaus oder aufs Geratewohl im hohen Gras verteilt sah, wie sie bedrohlich still dalagen, lautlos schrien oder ohne Worte protestierten, wie wir hier sterben, Herr Hauptmann, in diesem für ein Stadtviertel typischen Restaurant an einem unendlichen Tisch voller Brotrinden und Gläser sitzend sterben und uns mit dem billigen Branntwein unserer eigenen Totenwache betrinken.
    – Die Jahre vergehen, Junge, wiederholte fleischgierig der Alte mit den zerbrechlichen, von der Schärpe eines kaputten Umschlagtuchs geschützten Schultern aus Rohrgeflecht. Ach Scheiße, die Jahre vergehen.

    Der Treppenabsatz roch nach Reinigungsmitteln und Wachs, und jenseits der Tür vereinigten sich energische Reinmachgeräusche mit der elektrischen Verdauung der Waschmaschine und einer fröhlichen Stimme, die sang.
    – Durch den Lärm fühlte ich mich noch fremder, sagte der Oberstleutnant, während er einen Aschenbecher unter den Mengen verwüsteten Geschirrs suchte und sich schließlich mit einem geschickten Manöver, das mich überraschte, eines Tellerrandes bediente: die Ascherolle löste sich langsam, und die runde, blaßrote Glut der Zigarre erinnerte, in klein, an die mühsame Orangensonne im Nebel. Er hatte die übliche Stille erwartet, erklärte er mir, die übliche Grabmalsruhe (meine Tochter hatte mir sogar den Wellensittich weggenommen), ich hatte Lust, dort ganz ungestört herumzutrotten, in Schubladen zu wühlen, mit dem Finger über das Porzellan zu streichen, mich auszuziehen, mich zwischen den Bettüchern auszustrecken, mich mit geschlossenen Augen gehenzulassen, Sie wissen schon, die Hände hinter dem Nacken, frei von Gedanken, Plänen, schlechtem Gewissen auf der Matratze dahinzutreiben, und ich finde eine wahre Revolution in einem dritten Stock im Stadtteil Graça vor, laufendes Wasser, Schaum, angestelltes Radio, jemanden, der auf dem Balkon mit großen, kräftigen Schlägen wütenden Nachdrucks den Teppich aus der Diele klopfte.
    Er zögerte, wollte umkehren (das Licht im Fahrstuhl, der ihn transportiert hatte, ging aus, man hörte das Pfeifen des anderen, der sich ruckelnd in Bewegung setzte), schob schließlich ängstlich wie ein Dieb die Haustür auf, um die Nase in den Türspalt zu stecken, und sah die rührigen Umrisse einer noch jungen Frau am Ende des Flurs, die zwischen seinem Schlafzimmer und dem Zimmer hin- und herging, das früher das Zimmer seiner Tochter gewesen und nun zu einer Art Abstellkammer innerhalb der Wohnung geworden war, angefüllt mit Koffern, Stapeln zerrissener Lampenschirme, einem bis zum Rand mit Puppen und Spielzeug vollgepfropften Weidenkorb (die Jahre vergehen, Junge, die Jahre
vergehen, fuhr die sardonische Stimme des Alten unerschütterlich fort), einem Stück zerbrochenen Schnitzwerks, grauenhaften afrikanischen Götzen. Die Wohnung (erklärte er mir später) war nicht mehr die Wohnung, die er kannte, die Stille, die Ordnung, das Fehlen von Staub, die Erregung, die Bewegung, und ihn reizte es, sich vorzustellen, wie die lange Zeit seiner Ehe hätte sein können, wenn anstelle der Toten jemand anders mit ihm in der kleinen Wohnung in Graça in einem lauten Durcheinander gelebt hätte, es erregte ihn, sich auszudenken, wie anders sein

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