Fächergrün
Paradies?
Vielleicht hatte er ja auch gar kein schlechtes Gewissen, ging dem Kommissar durch den Kopf. Der Bauer schlachtet ja auch die Hühner, die er vorher gefüttert hat.
Ob er schon öfter beobachtet worden war? Lindt schaute umher. Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Die zwei älteren Frauen auf dem Bänkchen neben ihm unterhielten sich angeregt miteinander, weiter vorne am Ufer lag ein Studentenpärchen im Gras und war mit dem intensiven Austausch von Zärtlichkeiten beschäftigt. Der junge Vater auf der übernächsten Bank ließ sich mit geschlossenen Augen die Sonne ins Gesicht scheinen, solange er seinen Kinderwagen sanft schaukelte.
Keiner hat’s gesehen, und wennschon, dann hätte derjenige vielleicht auch reagiert wie Oskar Lindt. Was soll’s, eigentlich sind ja genügend da.
Trotzdem – dreist war die Aktion auf jeden Fall gewesen.
Langsam rappelte sich der Mann mühselig hoch und sammelte seine Tüten ein. Lindt beobachtete ihn genauer – ein Älterer mit wirrer grauer Mähne, weitem Hemd und bräunlicher Hose – vielleicht ein Obdachloser? Wie sollte der sich eine Ente braten? Überm Lagerfeuer in einem verborgenen Winkel?
Auf einmal war der Mann verschwunden, und der Kommissar rieb sich die Stirn. Es wäre zu schön, wenn auch er einen Köder auslegen könnte, einen leckeren Brocken, unwiderstehlich.
Nein, halt, dieser Gedanke war falsch. Es müsste ein Anreiz sein, der speziell auf eine Person wirkte. Nur auf denjenigen, der die Gebrüder Maiwald auf dem Gewissen hatte.
Mit ein paar Brocken altem Brot ist es dabei nicht getan, dachte der Kommissar, legte den Kopf in den Nacken und schloss entspannt die Augen.
Täuschend echt musste er aussehen, der Köder. So, dass der starke Hecht nicht daran vorbeikönnte und unbedingt zubeißen wollte. Oder so, dass er panisch das Weite suchen würde. Beide Situationen müsste man kontrollieren können.
Was würde sich eignen? So echt, so glaubwürdig wie möglich.
Wie wäre es, an einer bereits bekannten Tatsache anzuknüpfen? Vielleicht gerade an den DNA-Spuren im Schuppenkeller der Maiwalds?
Wie hatte KO-Bauer gesagt? Calabrone, die Hornisse. Winzige Blutpartikelchen von ihr waren im Abflusssieb zurückgeblieben.
Warum also nicht die Nachricht streuen, dass …
Dieser Gedanke gefiel dem Kommissar. Er behielt die Augen geschlossen und bewegte ihn in seinem Gehirn hin und her. Er schaukelte ihn sanft, so wie die Wellen des Schlossgartensees an das Ufer plätscherten. Er wiegte ihn hin und her, so wie der junge Vater neben ihm, der seinen kleinen Sohn in den Armen hielt. Er schob ihn von einer Ecke des Gehirns in die andere, beleuchtete ihn von allen Seiten, schaute den Gedanken von oben und von unten an und klopfte ihn ab, um Hohlräume zu entdecken.
Dann verformte er ihn. Drückte, knetete, schob und presste. So lange, bis aus dem flüchtigen Gedanken eine handfeste Idee geworden war. Mit Gestalt, mit Aussehen, mit Armen, Beinen, Kopf und Gesicht. Das Gesicht wies schwarze Fühler und kräftige Kieferzangen auf, der Körper war braun-gelb gestreift. Ein bedrohlich tiefes Brummen ertönte, sobald die Idee zu fliegen begann, und in regelmäßigen Abständen schnellte aus ihrem Hinterleib ein Stachel heraus. Lang wie eine Stricknadel, aber hochfest und messerscharf geschliffen. Calabrone, der ideale Köder!
Der Kommissar schlug die Augen wieder auf. Ja, es könnte funktionieren. Vielleicht war die Idee ja nur ein Strohhalm, an den er sich klammerte, aber sonst gab es nichts.
Einen Versuch war es jedenfalls wert. Am Montag konnte er seinen Plan bei der morgendlichen Lagebesprechung zur Diskussion stellen.
Fabio Gallo? Trotzdem am Samstag vernehmen?
Nein, besser etwas aufschieben. Der Hornissenplan würde für genügend Unruhe in der Szene sorgen.
Lindt reckte und dehnte sich, streckte die Arme aus und rappelte sich hoch. Er beschloss, eine kleine Runde durch den Hardtwald zu drehen, als Nächstes dem Geräusch seines leeren Magens abzuhelfen, noch einmal kurz im Präsidium vorbeizuschauen und sich anschließend ganz dem Wochenende zu widmen.
Der Montag begann mit einem gewaltigen Donnerschlag. Oskar Lindt fuhr mit einem Satz aus dem Bett, stürzte zum Fenster und zog den Rollladen hoch, um zu sehen, ob es in der Nähe eingeschlagen hatte. Dicke Regentropfen peitschten gegen die Scheibe, Blitze aus allen Richtungen erhellten den Himmel in kürzesten Abständen, und brutale Sturmböen malträtierten die Bäume und Sträucher
Weitere Kostenlose Bücher