Fächertraum
da und dort tauchte ein Gesicht am Fenster auf, neugierige Blicke in den Hof werfend.
Die Spurensicherung im Ladengeschäft von ›Traumland‹ war abgeschlossen. Das Team packte zusammen und fuhr Richtung Neureut, um sich dort das Reihenhaus des Getöteten vorzunehmen.
Auch die Arbeit am direkten Tatort konnte abgeschlossen werden. Ein Arzt der Gerichtsmedizin hatte die notwendigen Untersuchungen vorgenommen und das gesichtslose Opfer zur Obduktion bringen lassen.
Lindt war wirklich zufrieden. Alle Beteiligten hatten sehr professionell und reibungslos zusammengearbeitet. Halt, fast reibungslos, denn Ludwig Willms konnte es nicht lassen, seinen alten Freund Oskar noch ein wenig zu foppen.
»Falls dein antikes Damenrad mal den Geist aufgibt, könnte ich dir günstig ein stabiles Mountainbike vermitteln.« Er wies zur Tür des Lagers, wo das dunkle Nobelfahrrad jetzt lehnte. »Morgen werden wir es sicher freigeben.«
Lindt kannte diesen Tonfall, hatte aber keine Lust auf weitere Kabbeleien und wandte sich wortlos ab, doch Willms war noch nicht fertig: »Rechte Satteltasche Proviant, linke Satteltasche Tabak, wäre das nichts für dich?«
»Den Rucksack hast du noch vergessen«, gab der Kommissar etwas müde zurück. »Da packe ich dann deine Berichte rein, um sie irgendwo im Schlossgarten zu lesen.«
»Und dabei einzuschlafen«, stichelte der KTU -Chef weiter. »Aber du kannst sicher sein – von dem hier wirst du gleich wieder aufwachen. Vor allem unsere Fotos haben es in sich: blutrote Daunen, der Albtraum aus dem ›Traumland‹!«
»Ach, das ist mir neu, ihr könnt schon Farbbilder …?« Lindt trottete davon.
Zwischenzeitlich war es dunkel geworden. Er warf einen Blick auf die Uhr. Eigentlich noch früh am Abend – grauer November eben.
Totenmonat? Beim Blick in die Zeitung könnte man es meinen.
Bald kommt die Weihnachtsbeleuchtung, tröstete er sich, aber der Gedanke half nicht, seinen langsam wachsenden Trübsinn zu vertreiben.
Nicht einmal die nahe Kaiserstraße mit ihrer reichen Auswahl an Bratwurst-, Pizza- und Dönerständen konnte ihn locken. Er war schon am Mühlburger Tor – nur noch ein paar Gehminuten bis zum Europaplatz, doch Oskar Lindt hatte keine Lust.
Überhaupt keine Lust mehr! Nicht auf Essen und vor allem nicht mehr auf solche Bilder, wie er sie an diesem Nachmittag wieder einmal hatte ansehen müssen.
Er wusste, dass es manchen Kollegen ähnlich ging. Nicht nur solchen, die in seinem Alter waren, nein, zunehmend traf es auch die jüngeren. Vielleicht trauten die sich sogar eher, über ihre Probleme zu reden. Er zuckte die Achseln, als ob er sich mit einem unsichtbaren Gegenüber im Zwiegespräch befände. Vor 25 Jahren hätten sie dich als Weichei bezeichnet …
Zum Glück hatte auch die Polizei mittlerweile Profis, die sich um diese Probleme kümmerten. ›Die Karin werde ich dir schicken.‹ Das waren doch Ludwigs Worte gewesen. Zumindest so in der Art.
Hatte er dazu Lust? Sein Innerstes vor einer Psychotante auszubreiten? Musste das sein? Alles in ihm sträubte sich dagegen, das spürte er genau. Aber er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, gar nicht wohl, genau genommen ging es ihm richtig schlecht.
Gefühl? Konnte man sich das in der Mordkommission überhaupt leisten? Objektiv, nüchtern, sachlich, zielgerichtet, zupackend, so hatten die Ermittlungen abzulaufen. Seine grauen Zellen und die seiner Mitarbeiter zu Höchstleistungen anzutreiben, das war ihm immer wieder gelungen. Manchmal auf höchst ungewöhnlichen Wegen, und darauf war er stolz.
Konnte man das? Konnte er das noch, stolz darauf sein, möglichst viele Verbrecher überführt zu haben? Früher hatte er darin einen Sinn gesehen. Den eigentlichen Sinn, den Zweck seines Lebens – das zu tun, was er konnte. Was er sehr gut konnte.
›Warum machst du das eigentlich, Papa?‹, hatte ihn seine älteste Tochter einmal gefragt, und damals war sie erst 14 gewesen. ›Weil ich es kann‹, hatte er ohne viel Nachdenken geantwortet. Gab es auch etwas anderes, das er gut konnte?
Vielleicht doch eine Bratwurst? Am Stand hinter der Post-Galerie? Nur noch ein paar Schritte – den Europaplatz hatte Oskar Lindt schon erreicht. Essen könnte ihm helfen. Das hatte es immer getan. Oder?
Er befühlte mit den gespreizten Fingern beider Hände seinen Bauch. Sollte er?
Das Handy unterbrach seine Überlegungen.
»Chef, die Frau von diesem Guth ist ziemlich weit weg. Bei ihren Eltern in Espelkamp, das muss irgendwo in
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