Fänger, gefangen: Roman
selbst entscheiden.«
»Nicht als Minderjähriger.« Sie hält die zerknitterte Kopie von Senator Yowells Brief mit dem angehefteten Gesetzestext hoch. »Das war in deiner Jackentasche.«
»Haben Sie das nicht gelesen?«, frage ich sie. »Da steht, ein Minderjähriger kann entscheiden, wenn er hinreichend informiert wurde. Darumgeht es, deshalb bin ich nach New York gekommen bin.« Holden wird mir verzeihen, dass ich ihr nicht alle meine Gründe nenne.
Sie legt mir das Schreiben in die Hand. »Hast
du
es denn gelesen?«, fragt sie mich. »Zu den Bedingungen für die Chemo gehört eine schriftliche Erklärung deiner Eltern, dass du über alle medizinischen Optionen informiert wurdest. Ich soll wohl annehmen, dass dieser Schrieb in deinem Phantomrucksack war, wie?«
Nachdem sie ein paar andere Patienten behandelt hat, die hier alle auf fahrbaren Tragen und in Rollstühlen reingerollt werden, erzähle ich Jolie die Geschichte von Anfang an. Nicht das mit dem verstauchten Knöchel und Meredith, aber alles andere. Sie streicht die Seiten von Senator Yowells Brief glatt, während sie zuhört, und ich bin überrascht, als auf einmal ein zweites Tablett gebracht wird.
»Abendessen«, sagt sie.
»Was war das andere?«
»Mittag.« Sie fährt das Tablett ran und setzt mich aufrecht gegen die Kissen, damit ich essen kann. Dann dimmt sie das Licht und sagt, dass sie später wiederkommt.
»Mit einem Arzt?«, frage ich. »Ich muss mit jemand Offiziellem reden wegen der Chemo. Ich bin nicht sicher, wie viel Zeit ich noch habe.«
»Wir kümmern uns darum«, beruhigt sie mich. »Jetzt iss erst mal, so viel du schaffst, und ruh dich aus.«
»Müssen Sie gehen?«
»Meine Schicht endet um sieben, Junge«, antwortet sie. »Morgen früh werden die Ärzte ein paar Ergebnisse haben, dann können sie entscheiden.« Sie nickt Richtung Tablett. »Im Moment musst du nur essen. Morgen ist ein neuer Tag.«
»Und Sie kommen dann wieder?«
»Sicher. Morgens.«
»Und Sie sagen das nicht nur? Sie meinen das auch so?«
Sie lächelt und macht kurz eine Salutierbewegung.
Als ich allein in dem mit Vorhängen abgetrennten Krankenabteil liege, gehe ich noch mal den Plan durch, den ich in Virginia für so logisch hielt. Peinlich ist gar kein Ausdruck dafür, was ich alles getan habe, um die Leukämie zu besiegen: Für das Zugticket habe ich Nicks lebenslang gesammelte Ersparnisse gestohlen, ich hab beim Telefonieren mit Meredith geheult, und obwohl ich gesehen habe, wie fertig Mack wegen seiner Drogengeschichte ist, bin ich nicht geblieben, um sicherzugehen, dass er wieder aufhört. Trotz des neuen Gesetzes von Senator Yowell und der Hoffnung seiner politischen Verbündeten auf ein faireres System hätte ich wissen müssen, dass sie es einem Kind nicht leicht machen. Es sieht nicht so aus, als könnte ich die New Yorker Ärzte überzeugen, dass sie mir die blöde Chemo geben. Und ich kann nicht mal mehr abhauen.
Dass ich auch hierin versage, nachdem mein Körper so versagt hat, ist zu viel. Jetzt, meilenweit von zu Hause entfernt, sehe ich kristallklar, was ich alles falsch gemacht habe. Leukämie ist eins dieser Probleme, die du nicht allein lösen kannst. Ich denke an die zwölf Schritte des AA-Programms, nach dem Dad lebt, und erkenne sie so deutlich vor mir wie die Schrift auf einem Ouija-Brett, während der übrige Raum plötzlich krumm aussieht und weiße Schatten scharf und wieder unscharf werden, mal auf der einen, dann auf der anderen Seite des Bettes.
Als Erstes, sagt Dad, musst du dir eingestehen, dass du ein Problem hast, das du nicht kontrollieren kannst. Dann musst du einsehen, dass du Hilfe einer höheren Macht von außen brauchst. So weit bin ich schon fast. Bin ich ein Leukämie-Junkie auf dem Weg der Heilung? Wohl kaum. Nur das mit der Leukämie, das stimmt. Das Zimmer um mich herum dreht sich. Die Uhr und die Geräte verschwimmen und werden unlesbar. Meine Augen trüben ein, mein Hals schwillt zu. Die Wände neigen sich über mich, und ich weiß, dass ich kränker bin als je zuvor, ich versinke, ich sterbe. Kurz bevor ich bewusstlos werde, kommt mit einem Schwall kalter Luft durch die automatischen Türen – dahinter der kohlschwarze Schacht der New Yorker Nacht – eine vertraute Stimme herein.
Mom hat mich doch noch gefunden.
Ich weiß nicht, wie ich von der fahrbaren Trage in ein richtiges Krankenbett gekommen bin. Das Zimmer ist dunkel, bis auf das künstliche Licht hinter der Vorhangschiene über meinem Kopf. Sie
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